Für Gourmets: 5 Sterne

SmithNa bravo!
Die Bravos, das sind: Mutter Arla, mit 62 immer noch eine imposante Erscheinung, trotz des halbierten Fußes, des Stocks und des anstrengenden Lebens. Dann gibt es noch Tochter Sofia, wie die Mutter gesegnet mit Schönheit, feuerrotem Haar und einem ebenso wilden Temperament. Das familieneigene Restaurant wird geführt von Sohn Frank, der in erster Linie beherrscht ist von einem alten Schuldgefühl und seiner Liebe zu Elisabeth, die unglücklicherweise Franks Schwägerin ist. Ihr Mann, Carson Bravo, hat es nicht so mit der Ehrlichkeit – und deshalb steht ihm das Wasser bis zum Hals. Ebenfalls zur Familie gehörend, aber aus diversen Gründen abwesend sind Vater Dean und Sohn Will. Eine große Familie mit großen Problemen: willensstarke Charaktere, ein halb zerfallenes Haus, lähmende Schuld und lange gärende Wut – das ist eine explosive Mischung. Und als den Bravos viel Geld für ihren Besitz geboten wird, ist dies der zündende Funke.

Palmherzen von Laura Lee Smith wurde mir 2013 von mehreren Seiten dringend ans Herz gelegt – von der Bibliophilin hab ich es mir schließlich ertauscht. Ich war neugierig auf dieses Buch, das alle so toll fanden, und kann mich nun, da ich es gelesen habe, den begeisterten Stimmen nur anschließen. Der amerikanischen Autorin Laura Lee Smith ist mit ihrem Roman etwas gelungen, das nicht viele schaffen: Sie hat eine Familie gezeichnet, die man trotz der vielen verschiedenen Figuren sehr lebhaft vor Augen hat, und sie hat jedem Einzelnen eine Geschichte auf den Leib geschrieben, sie alle untereinander verwoben und ein engmaschiges Netz gestrickt, das jeden Leser einfängt wie einen glitzernden Fisch. Palmherzen bietet das, was ich solide Handarbeit nennen möchte: fein ausgearbeitete Charaktere, eine kluge, sinnvoll aufgebaute und nicht zu überladene Handlung, eine ausgewogene Mischung aus Geheimnis, Verrat und Klischee, alles gewürzt mit ein wenig Abgeklärtheit und Rührseligkeit. Die Bravos sind ein wenig vom Schicksal gebeutelt, aber amerikanisch genug, um das Gefühl zu haben, dass all das „selfmade“ ist. Deshalb ist dieser hervorragende Roman angenehmerweise völlig frei von Pathos.

Ich liebe gut gemachte Familienromane, ich setze mich gern an gedeckte Tische und schaue heimlich durchs Fenster, ich beobachte die Figuren, leide mit ihnen, lache sie aus, wundere mich über sie. Ich mag es, wenn in einem Buch ein ganzer Familienverband seine Wirkung entfaltet, wenn alle aneinander gekettet sind und die Geschichte eines Bruders nur durch die des anderen komplett wird, die Abwesenheit des Vaters erst verständlich wird durch die Abwesenheit des Sohnes. Laura Lee Smith hat einen wundervollen, in sich geschlossenen, anrührenden Roman geschrieben, in dem Witz, Liebe, Zusammenhalt und Glück ebenso Platz finden wie Verrat, Schuld, Trauer und Hass. Auf über 500 Seiten ist er so prall, schillernd und facettenreich wie das Leben selbst. Hervorragend!

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

WilliamsChronik eines Lebens
„Als William Stoner sehr jung war, hatte er die Liebe für einen vollkommenen Seinszustand gehalten, zu dem Zugang fand, wer Glück hatte. Als er erwachsen wurde, sagte er sich, die Liebe sei der Himmel einer falschen Religion, dem man mit belustigter Ungläubigkeit, vage vertrauter Verachtung und verlegener Sehnsucht entgegensehen sollte. Nun begann er zu begreifen, dass die Liebe weder ein Gnadenzustand noch eine Illusion war; vielmehr hielt er sie für einen Akt der Menschwerdung, einen Zustand, den wir erschaffen und dem wir uns anpassen von Tag zu Tag, von Augenblick zu Augenblick durch Willenskraft, Klugheit und Herzensgüte.“

Stoner ist ein Farmerjunge, der von seinen schwer arbeitenden, schweigsamen Eltern an die Universität geschickt wird, um etwas über die Landwirtschaft zu lernen. Doch Stoner gerät auf Abwege – jene der Literatur. Er wechselt zu Englisch, liest Shakespeare und Konsorten, bleibt an der Uni und wird Lehrer. Eine bescheidene, aber größtenteils zufriedenstellende Laufbahn als Professor liegt vor ihm. Er lernt Edith kennen und heiratet sie, doch die spärliche Zuneigung zwischen den beiden schlägt bald in pure Abneigung und zeitweise in offenen Hass um. Später wird auch Töchterchen Grace, um das Stoner sich jahrelang wegen Esthers Unpässlichkeiten allein kümmert, in die Ehestreitigkeiten hineingezogen, die Stoner langsam zermürben. Der Erste Weltkrieg verschont ihn und beschäftigt ihn nur aus der Ferne, mehr unmittelbaren Einfluss auf sein Leben haben die universitären Intrigen, die ihn am Weiterkommen hindern. Stoner ist nicht zu glücklich, aber auch nicht zu unglücklich, und dann hält das Leben noch eine Überraschung für ihn bereit: die Liebe.

John Williams‘ 1965 erschienener Roman gilt als verkannter Klassiker, der seit seiner Wiederentdeckung 2002 große Erfolge feiert. Der amerikanische Autor, der wie sein Protagonist englische Literatur lehrte, breitet auf eine erschütternd unerbittliche Art ein Leben vor mir aus, das auf den ersten Blick zäh, anstrengend und ereignislos wirkt. Bezeichnend ist, dass dieses Buch nicht sehr lebendig ist, sondern sehr plakativ erscheint. Beim zweiten Hinsehen fällt mir auf, dass Stoner eigentlich alles hatte, was er sich wünschen konnte: ein Haus, eine Familie, berufliche Anerkennung, eine Leidenschaft – die Literatur. Nichts davon war herausragend, nichts perfekt, aber wann ist es das jemals? Stoner ist still, grau, bedeutungslos, sein Leben ist kein Rausch wie das von Elvis, kein Aufschrei wie das von Luther King, sondern einfach ganz normal. Wie bei uns allen. Dies zeigt der Autor sehr nüchtern, wohlformuliert, wirkungsvoll und überaus lesenswert. Ein Buch, das einem die Augen öffnet für das Gute im Alltag, und zwar auf völlig unesoterische Weise. Sehr gelungen!

Stoner von John Williams ist erschienen im dtv (ISBN 978-3-423-28015-0, 352 Seiten, 19,90 Euro).

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

VelascoAlles ist gut, solange du wild bist
Nini und Jameelah leben in Berlin in derselben Siedlung und sind mit ihren 14 Jahren bereit für die Entjungferung. Deshalb ziehen sie sich Ringelstrümpfe an und lassen sich von den Kurfürsten mitnehmen, um alles zu üben, was mit Sex zu tun hat. Denn wenn sie alles wissen, kann ihnen nichts passieren. Das Geld, das sie dafür bekommen, investieren sie in Milch, Maracujasaft und Mariacron – die Zutaten für Tigermilch. Was sie sonst noch haben wollen, klauen sie. Die Sommerferien dehnen sich endlos vor ihnen aus, Ninis Mutter lebt auf der Couch, Jameelahs Mutter träumt von der Einbürgerung, die Mädchen vertreiben sich die Zeit mit Amir im Freibad und auf Partys, Nino und Lukas sind die Auserwählten für die Entjungferung. Doch als eine Familienfehde rund um die Beziehung zwischen Amirs Schwester Jasna und einem Serben vor den Augen von Nini und Jameelah eskaliert, wird den beiden klar: Man kann nicht alles wissen. Und passieren kann einem trotzdem immer was.

Tigermilch von Stefanie de Velasco ist ein rotzfreches und zugleich tieftrauriges Buch. Die deutsche Autorin lässt in ihrem Debüt mit Ich-Erzählerin Nini ein Mädchen zu Wort kommen, das täglich erlebt, was einen „sozialen Härtefall“ ausmacht: kaputtes Elternhaus, Nachbarn mit Migrationshintergrund, Schuleschwänzen, Alkohol, Kleinkriminalität, Gewalt. Nini hält die Welt auf Distanz mit einem eigenartigen Wurschtigkeitsgefühl, das ihr jedoch abhandenkommt, als in Amirs Familie die Probleme richtig ernst werden. Ihre Freundschaft zu Jameelah ist innig, eine Art Familienersatz, gleichzeitig aber auch ein zweischneidiges Schwert, weil immer viel auf dem Spiel steht, wenn die Gefühle sehr groß sind. Alles gerät aus dem Gleichgewicht, und eine Flut an Emotionen bricht über die Teenager herein: Die Unsicherheit rund um den ersten Sex macht ihnen zu schaffen, Verrat und Schuldgefühle entwickeln eine zerstörerische Macht, und dass sie wissen, was das Richtige wäre, ändert nichts daran, dass sie es nicht tun.

Ich kenne mich in Berlin und mit der Berliner Jugend nüsse aus – doch Stefanie de Velasco schildert mir Ninis und Jameelahs Welt so lebensnah, dass ich mir alles genau vorstellen kann und ihr auch jedes Wort glaube. Der Erzählton schwankt zwischen Sarkasmus und Abgebrühtheit einerseits sowie kindlicher Hilflosigkeit andererseits. Oft wird der Ausdruck verwendet, dass ein Kind zu schnell erwachsen werden muss – hier trifft er zu: Die Protagonistinnen sind allein auf sich gestellt, wissen aber gar nicht, wie das Erwachsensein geht. Fazit: Sehr gut geschrieben, intensiv und lebendig erzählt, ein bisschen mit Klischees behaftet, aber sehr lesenswert!

Gut und sättigend: 3 Sterne

DübgenVier Menschen, vier Länder, vier Geschichten
Ada hat mit ihrer Freundin Judith einen Film über den Gazastreifen gedreht. Doch als Ada das nächste Mal nach Tel Aviv kommt, ist Judith tot – und Ada hat ihre Asche mit, um sie zu verstreuen. Makiko aus Japan hat es durch harte Arbeit bist an die Spitze geschafft: Sie tourt als Pianistin durch Europa. Mit ihrem Manager Gerald, der verheiratet ist, hat sie eine Affäre – und ihre Schwangerschaft kommt ebenso überraschend wie ungeplant. Jason soll in Tokio die Übernahme einer japanischen Firma abwickeln, auf die seine amerikanischen Bosse ein Auge geworfen haben. Luiz, der aus Brasilien stammt, betrügt seine Frau Rachel, mit der er zwei Kinder hat und die sich für den Frieden engagiert, will eigentlich nur fort aus Tel Aviv.

Die junge deutsche Schriftstellerin Hannah Dübgen erzählt in ihrem Debüt Strom von vier völlig verschiedenen Menschen, deren Geschichten ein wenig „interlinking“ sind, lässt sie durch die Welt reisen und nach ein bisschen Glück suchen. Gemeinsam ist ihnen, dass sie entwurzelt sind und sich nicht dort befinden, wo sie zuhause sind. Sie müssen sich fremden Kulturen stellen und scheitern – vor allem Jason – zum Teil daran. Der Strom im Titel ist nicht die Elektrizität, sondern der Fluss, die Zeit, die uns durch die Finger rinnt. Deshalb ist der Roman auch nicht elektrisierend, sondern bedächtig und ruhig. Die vier Figuren sind nett, interessant, menschlich, aber in ihrer Gewöhnlichkeit auch austauschbar. Das ist in Ordnung, weil es darum geht, vier willkürliche Möglichkeiten zu zeigen, die das Leben in dieser Art tatsächlich bieten könnte. Allerdings fehlen aufkochende Emotionen in diesen zurückhaltenden Stories, die so ganz zufällig ineinanderfließen und sich wieder voneinander entfernen.

Strom ist ein breiter, gerader Fluss, der sich nicht verliert, nirgends versickert – er meint es sehr ernst, es gibt nichts Spielerisches. Auch keine versteckten Felsspitzen, keine Strudel, keine Wasserfälle, nichts, woran ich mich festhalten könnte oder was mein Erstaunen auslösen würde. Ich lasse mich treiben, folge den Erzählungen im Roman, genieße die schöne, makellose, melodische Sprache, vermisse aber das große Aha-Erlebnis. Ich warte sprichwörtlich darauf, dass am Ende eine Bombe explodiert, bin überzeugt davon, dass sie an irgendeinen Körper geschnallt ist, der sich durch Tel Aviv schiebt, aber als es still bleibt, wundere ich mich, wohin die Kraft, die das Buch zu Beginn zu haben schien, verflogen ist. Dies ist ein guter, lesenswerter, empfehlenswerter Roman, an dem mich nichts gestört hat, außer vielleicht, dass einen daran irgendwie nichts stören kann.

Strom von Hannah Dübgen ist erschienen im dtv (ISBN 978-3-423-24972-0, 272 Seiten, 14,90 Euro).

Für Gourmets: 5 Sterne

Ward„Wo meine Brüder hingehen, gehe ich auch hin“
„Wir haben nie aufgehört zu weinen. Wir haben es nur im Stillen getan.“ Denn auch nach dem Tod der Mutter, die bei der Geburt des vierten Kindes gestorben ist, müssen die 15-jährige Esch und ihre Brüder Randall, Skeetah und Junior weitermachen. Der Vater trinkt, das Haus verfällt, die Sonne brennt – und über dem Mississippi-Delta braut sich ein Hurrikan von ungekannter Stärke zusammen. Sein Name ist Katrina. Zwölf Tage lang versucht der Vater, das Haus irgendwie sturmfest zu machen, während Randall von einer Zukunft als Basketballer träumt, Skeetah mit aller Kraft um das Überleben der Welpen seiner Pitbull-Hündin China kämpft und Esch feststellt, dass sie schwanger ist. Der Vater des Kindes ist Manny, der eine Freundin hat und sich bei Gelegenheit über Esch hermacht, sie aber ansonsten gar nicht ansieht. „In meiner Brust ist eine Bewegung, so als hätte jemand einen Schlauch voll aufgedreht, und jetzt strömt das Wasser, das in der Sommerhitze in der Pumpe gestanden hat, siedend heiß heraus. Das ist Liebe, und sie tut weh.“ Als der Hurrikan seine gnadenlose Wut an Eschs Heimat auslässt, spitzt sich die Lage dramatisch zu – in jeder Hinsicht.

Vor dem Sturm der amerikanischen Autorin Jesmyn Ward, die aus Mississippi stammt, ist ein unfassbar gutes Buch. Langsam, ganz langsam baut sich eine düstere, unabwendbare Bedrohung auf – und obwohl sich alles um vermeintliche Alltagsprobleme dreht, um eine unerwiderte Liebe, Hunger, die Alkoholsucht des Vaters, ist bald schon spürbar, dass es in Wahrheit um Leben und Tod geht. Ihr Haus bietet Esch und ihrer Familie keinen Schutz, doch es gibt nichts, wohin sie gehen könnten. Jesmyn Ward hat einen kraftvollen, intensiven, sehr eindringlichen Roman geschrieben, der mich mit seinem Strudel erfasst, mitreißt, hinabzieht. Ich-Erzählerin Esch ist stark, mutig, abgebrüht, schwarz – und bis an die Schmerzensgrenze verliebt. Die Einsamkeit frisst an ihrer Elefantenhaut, und dass Manny nur Sex mit ihr will und ansonsten nicht einmal ihren Blick erwidert, ist unerträglich. Mein Herz fliegt ihr zu, dieser kleinen, zähen Heldin, die wie alle anderen in der Familie genau weiß, dass sie nur überleben kann, wenn alle zusammenhalten. Die Geschwisterbande sind wichtig und unerschütterlich in diesem grandiosen Buch über Verlust, Angst, Armut und die Hilflosigkeit des Menschen angesichts von Naturkatastrophen. Sprachlich gesehen hat Jesmyn Ward eine wahre Meisterleistung zu Papier gebracht, hat ihre Sätze poliert, sodass sie in der sengenden Mississippi-Sonne glänzen und funkeln wie Miniaturschätze. Wunderbar, klug, traurig, spannend, schmerzhaft und poetisch – Vor dem Sturm solltet ihr unbedingt gelesen haben.

(Das sieht übrigens auch Mara von Buzzaldrins Bücher so.)

Vor dem Sturm von Jesmyn Ward ist erschienen im Verlag Antje Kunstmann (ISBN 978-3-88897-861-6, 320 Seiten, 21,90 Euro).

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Hempel„Alles, was man sich vorstellen kann, geht hier vor sich, und dazu auch noch Dinge, die man sich nicht vorstellen kann“

Big Guys Mutter hat sich erhängt, und seine beste Freundin versucht, ihn von seinem Kummer abzulenken – mit Fizzies und, warum auch nicht, mit dem eigenen Körper. Miss Locey liegt am Halloweenabend mit einer Verletzung im Bett und muss von einer Agentur eine junge Frau mieten, die Süßigkeiten an die Kinder verteilt, damit ihr Haus nicht mit Eiern beworfen wird. Katze Gully bekommt zum Geburtstag Fischstäbchen, und in einem Nachmittagsclub erzählen Frauen einander von ihren Krebserkrankungen und den Verfehlungen ihrer Männer.

Amy Hempel tut mit ihren Geschichten etwas, das mich sehr freut: Sie verblüfft mich. Ich nehme ihr schmales Büchlein abends um acht in die Hand – und lege es um halb zehn ausgelesen zur Seite, mit einem verdatterten Gesichtsausdruck. Was hat diese amerikanische Kurzgeschichtenautorin mit mir gemacht? Sie hat mir Rätsel aufgegeben, mir Storys präsentiert, die sich mir nicht erschließen, und andere erzählt, die mich tief anrühren. Sie hat mir Sätze um die Ohren geschlagen und mich mit anderen an der Wange gestreichelt. Dazu braucht sie nicht viele Worte und auch generell nicht viel Platz, die kürzeste Geschichte hat nicht einmal eine Seite. Umso stärker, mutiger und geschickter ist Amy Hempel aber im Umgang mit diesen Worten – sie sitzen alle dort, wo sie sein sollen, auch wenn ich manchmal nicht verstehe, wie sie dorthin gekommen sind.

Die Ernte ist ein Buch voller Kurzgeschichten, die nicht gefällig sein wollen, denen es, glaube ich, sogar ganz egal ist, ob sie gelesen werden und was die Welt von ihnen hält – so cool kommen sie daher. Sie sind rotzfrech, schräg, traurig, unerklärlich, originell und zutiefst verstörend. Gut geht es eigentlich niemandem in diesen Storys, und mir geht es beim Lesen auch nicht gut. Das muss es allerdings auch nicht, denn schließlich will ich etwas spüren bei einem Buch, und hier spüre ich die gesamte Bandbreite der menschlichen Gefühle: Hass, Liebe, Schuld, Einsamkeit, Sehnsucht. Faszination und Verwirrung halten sich die Waage. Der Indie-Verlag luxbooks hat sich vorgenommen, alle zwei Jahre einen weiteren der vier Erzählbände dieser Autorin zu veröffentlichen. Ich kann nur sagen: hervorragende Idee! Und hervorragendes Buch.

Die Ernte von Amy Hempel ist erschienen bei luxbooks (ISBN 978-3-939557-72-2, 113 Seiten, 14,90 Euro).

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Ogawa„Die Ordnung der Zahlen ist deshalb so schön, weil sie im täglichen Leben keinen Nutzen hat“

„Der Professor liebte Primzahlen über alles auf der Welt. Natürlich hatte ich schon einmal von ihrer Existenz gehört, aber es niemals für möglich gehalten, dass sie ein Objekt von so großer Leidenschaft sein könnten. Doch wie exzentrisch das Objekt seiner Liebe auch sein mochte, er war ein hingebungsvoller Liebhaber. Er behandelte sie zärtlich, ließ es nie an Demut fehlen, er hofierte sie und wich niemals von ihrer Seite.“ Als sie dem Professor zugeteilt wird, eröffnet sich der namenlosen Haushälterin eine völlig neue Welt: die Mathematik. Nach einem Unfall im Jahr 1975 währt das Gedächtnis des Professors nur noch achtzig Minuten, weshalb der Umgang mit ihm nicht einfach ist. Viele kleine Zettel an seinem Anzug helfen ihm dabei, sich nach jedem erneuten Gedächtnisausfall zurechtzufinden. Die Haushälterin muss sich jeden Tag mehrmals neu vorstellen, aber sie nimmt all diese Anstrengungen gern auf sich, weil der hilflose, tatterige Professor an ihr Herz rührt. Als er herausfindet, dass sie einen zehnjährigen Sohn hat, nötigt der Professor die Haushälterin, diesen nach der Schule herkommen zu lassen, damit er nicht allein ist. Er tauft ihn Root, weil ihn sein flacher Schädel an das Wurzelzeichen erinnert, das „unendlich vielen Zahlen ein schützendes Dach über dem Kopf bietet“. Langsam entsteht zwischen diesen drei völlig unterschiedlichen Menschen, von denen einer die anderen beiden alle achtzig Minuten wieder komplett vergisst, eine Freundschaft. Das ist jedoch der Schwägerin des Professors ein Dorn im Auge …

Yoko Ogawa schreibt unendlich freundlich und dadurch – in meinen Augen – sehr japanisch. Den Widrigkeiten des Alltags begegnen die drei Protagonisten, wie es für die Japaner üblich sein soll, mit ausgesprochener Höflichkeit. Sie sind beherrscht von gesellschaftlich auferlegter Steifheit und Distanz, und es ist umso schöner zu sehen, wie diese im Lauf des Romans schmelzen. In seiner Ratlosigkeit, wer da eigentlich vor ihm steht, greift der Professor immer wieder zum selben Trick: Er spricht über Zahlen, denn damit kennt er sich aus. Er erzählt der Haushälterin von Primzahlen und befreundeten Zahlen, hilft Root bei den Hausübungen und stellt ihm Aufgaben, und er entführt diese beiden, die sehr bescheiden und einfach leben, in eine Welt, zu der sie bisher keinen Zugang hatten. „In meiner Vorstellung waren die Zahlen immer irgendwie lebendig: Sie umarmten sich oder trugen dieselben Kleider oder standen Hand in Hand nebeneinander“, sagt die Haushälterin.

Das Geheimnis der Eulerschen Formel ist ein Buch, das man umarmen möchte. Weil es so schlicht und klug ist und so lieb dreinschaut. Deshalb kann man damit ganz ausgezeichnet auf der Couch kuscheln. Und sogar noch was lernen: über Primzahlen und ähnliche Zahlen, Wurzeln und Dreieckszahlen. Die Erklärungen versteht – zum Teil, ähem – sogar so ein Mathematikdepp wie ich, und sie fügen sich vor allem ganz perfekt in die Geschichte ein. Dieser anmutige Roman fängt die Rätsel der Mathematik ein und zeigt, dass das Leben selbst ebenso ein Rätsel ist. Drei Menschen, die scheinbar nicht zusammenpassen, tun es letztlich doch und finden im jeweils anderen etwas, das ihnen selbst fehlt. Schön.

Das Geheimnis der Eulerschen Formel von Yoko Ogawa ist als Taschenbuch erschienen im Aufbau Verlag (ISBN 978-3-7466-2944-5, 8,99 Euro, 250 Seiten).

Bücherwurmloch

BengtssonEin Blick zurück und zwei nach vorn

Endlich ist dieses Jahr vorbei! Es war so anstrengend. So unheimlich anstrengend. Ich hoffe, dass 2013 das anstrengendste Jahr meines Lebens war, denn das würde bedeuten, dass es ab sofort wieder besser wird. Mal sehen, wie realistisch das ist. Als wahrer Bücherjunkie habe ich aber trotz aller „Widrigkeiten“ – zweites Baby, Arbeit, Umzug – gelesen wie eine Wilde, und ich hab es sogar geschafft, meinen alten SuB zu vernichten, wie ich es mir gegen Ende des Sommers in den Kopf gesetzt habe. Das war ein tolles Gefühl, und vor allem habe ich den Rauschzustand genossen, als ich dann endlich kurz vor Weihnachten wieder damit anfangen konnte, einen neuen SuB anzulegen. Spätestens seit diesem Moment weiß ich mit Sicherheit, dass ich absolut süchtig bin nach Büchern. Ich denke an sie. Ich träume von ihnen … und ich will sie immer um mich haben.

2013 also. Ein ereignisreiches und wie immer bücherreiches Jahr, 93 sind es geworden, ein letztes lese ich bis nächste Woche noch aus, und fragt mich nicht, wann ich die alle gelesen habe, denn ich weiß es nicht – ich hab eigentlich keine Zeit zum Lesen. Ich inhaliere sie so nebenbei, wenn ich eine freie Minute finde. Zu meinem Glück waren auch heuer viele Highlights dabei, 14 Mal gab es 5 von 5 Punkten, 25 Mal waren es 4. All diesen Büchern ist es gelungen, zu mir durchzudringen, mich aufzurütteln, anzurühren, zum Nachdenken oder Lachen zu bringen, mir in die Haut zu schneiden.

Sehr nah an der Perfektion war für mich Adam Johnsohn mit Das geraubte Leben des Waisen Jun Do, genau wie Daniela Krien mit Irgendwann werden wir uns alles erzählen und Ann Packer mit dem „Überraschungshit“ The dive from Clausen’s Pier. Wunderbar fies fand ich Doris Knecht mit Besser und – mein Humor-Highlights des Jahres – Maria Semple mit Where’d you go, Bernadette? DAS Buch des Jahres? Wie keiner sonst von Jonas T. Bengtsson. Es hat mich am meisten getroffen in seiner schlichten Schönheit und Grausamkeit.

Alle hervorragenden Bücher 2013 findet ihr in der Kategoriensuche hier und hier.

Und: 2013 ist noch etwas Hervorragendes passiert, die Klappentexterin hat (gemeinsam mit sechs anderen Bloggerinnen, darunter ich) We read Indie gegründet. Die Resonanz auf diesen Blog zur Unterstützung von Kleinverlagen war von Anfang an grandios, und wir freuen uns auf viele spannende Bücher und Projekte für 2014.

Kurz vor knapp möchte ich euch danken – dafür, dass ihr da seid, meine Rezensionen lest, euren Senf dazuklatscht und mit mir kommuniziert, dass ihr mir Empfehlungen gebt und euch mit mir über das, was wir gelesen und gefühlt haben, austauscht. Ich schätze jeden Einzelnen von euch sehr.
Möge das neue Jahr euch und mir viele wundervolle Leseerlebnisse bringen und außerdem – zumindest mir – mehr Schlaf und weniger Überlastung. Oh, und Bücher. Natürlich viele, viele neue Bücher.
Einen guten Start für 2014 wünscht euch
Mariki

Gut und sättigend: 3 Sterne, Snacks für zwischendurch

WaughSnack für zwischendurch – Kurzrezension

Worum geht’s?
Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs trifft Militärkommandant Charles Ryder in Brideshead ein – und erinnert sich beim Anblick des verlassenen Anwesens an die goldenen Zeiten, die er dort verbracht hat. In Oxford lernte er den exzentrischen Sebastian kennen und freundete sich mit ihm an, begeistert war er auch von Sebastians katholischer Familie voll schräger Vögel. Der Vater lebte mit seiner Geliebten in Rom, die Mutter ignorierte das nach Kräften, Sebastians Schwester Julia verzauberte Charles mit ihrer fast schon ruppigen Art. Als Sebastian dem Alkohol verfiel, konnte Charles dem besten Freund nicht helfen. Jahre später – Charles war verheiratet, Vater zweier Kinder und als Künstler in der Welt unterwegs – traf er erneut auf Julia. Doch letztlich sollte für Charles alles, was er sich rund um die Brideshead-Familie ausgemalt hatte, nicht so enden wie gedacht.

Hat’s gemundet?
Ja. Das von Evelyn Waugh – übrigens ein Mann – 1945 veröffentlichte, angeblich autobiografisch geprägte Buch ist ein Klassiker, sehr nostalgisch und ziemlich antiquiert. Das hat mich zwischendurch beim Lesen ein wenig gequält, da gestelzte Ausdrücke in einer Sprache, die nicht meine Muttersprache ist, natürlich doppelt anstrengend sind. Ich mag aber die Schwerfälligkeit des Romans, die Nonchalance, dieses Lässige, das der Krieg später von allen abschüttelt. Die reichen Studenten in Oxford fühlen sich wie junge Götter, denen Prüfungen und Alkohol nichts anhaben können. Dann fallen sie vom hohen Ross, und Evelyn Waugh gibt diesem Wandel eine sehr wehmütige Stimme. Überrascht haben mich dabei die oftmals religiösen Interpretationen der Ereignisse.

Wer soll’s lesen?
Umgekehrt formuliert – sollte man wohl gelesen haben.

Gut und sättigend: 3 Sterne, Snacks für zwischendurch

KhadraSnack für zwischendurch – Kurzrezension

Worum geht’s?
Younes wird in Algerien als Kind armer Bauern geboren, deren gesamte Ernte einem absichtlich gelegten Feuer zum Opfer fällt. Der Vater bringt die Familie in die Stadt Oran und versucht mit eisernem Willen, dem Elend zu entkommen, scheitert jedoch schrecklich. Um wenigstens dem Sohn ein gutes Leben zu ermöglichen, überlässt er ihn seinem Bruder, einem Apotheker, und Younes wird im europäischen, reichen Teil der Stadt zu Jonas. Schnell findet er drei beste Freunde, deren Schicksal sich später rund um die schöne Émilie dreht, die jeder Einzelne von ihnen liebt. Der Krieg macht ihnen in jeder Hinsicht einen Strich durch die Rechnung, und viele Jahrzehnte später erinnert Younes sich voller Wehmut an das, was er getan und das, was er versäumt hat zu tun.

Hat’s gemundet?
Ja. Allerdings waren die Erwartungen vermutlich ein wenig zu groß. Denn der Klappentext spricht von einer Liebe zwischen Younes und Émilie, einer „Sehnsucht, in der sich über die folgenden Jahrzehnte hinweg das schwierige Verhältnis von Orient und Okzident spiegelt“. Das ist zu hoch gegriffen, denn eine solche Liebe gibt es nicht, und in all den Jahrzehnten besteht zwischen den beiden Figuren gar kein Kontakt. Das hat mich ein wenig irritiert. Ansonsten aber ist Die Schuld des Tages an die Nacht des algerischen Autors Mohammed Moulessehoul, der unter dem Pseudonym Yasmina Khadra schreibt, ein intelligentes, eindrucksvolles Buch über das Leben in Algerien in der Zeit von 1930 bis 1960, das Porträt eines von Unruhen gebeutelten Landes. Es geht um Leid und Unglück, um Schicksal und die Machtlosigkeit, mit der man ihm gegenübersteht. Gut und flüssig zu lesen, zwischendrin vielleicht ein wenig langatmig.

Wer soll’s lesen?
Jeder, der gern in fremde Länder reist und mitfiebert, ob ein Protagonist es schafft, seinem vermeintlich vorgezeichneten Schicksal zu entkommen.

Bestes Zitat:

„Hör auf zu jammern, mein Junge. Es gibt nur einen Gott auf Erden, und der bist du. Wenn dir die Welt nicht gefällt, denk dir eine neue aus, und lass nicht zu, dass der Kummer dich von deiner Wolke holt. Das Leben lächelt dem zu, der es ihm mit gleicher Münze heimzahlt.“