Gut und sättigend: 3 Sterne

SaundersZehn visionäre Geschichten
Stell dir vor, du hast ein MobiPak in deinem Körper, über das beliebige Substanzen in dein Blut gepumpt werden können: Verbaluce zum Beispiel, damit du alles sagen und dich eloquent ausdrücken kannst. Oder SoIsBrav, das dich willenlos macht. Oder Dunkelfloxx, das dich verzweifeln lässt und traurig macht, so traurig, dass du dich umbringst. All das erlebt der Gefängnisinsasse Jeff, der als Versuchskaninchen in George Saunders‘ Geschichte Flucht aus dem Spinnenkopf an einer Experimentreihe teilnehmen muss. Das Ziel: chemisch beeinflussen zu können, ob ein Mensch einen anderen liebt. Er ist ausgeliefert, so wie Alison Pope, ein Teenager, der überfallen und aus dem eigenen Haus entführt wird – beobachtet vom Nachbarsjungen Kyle, der, um sie zu retten, sämtliche Regeln seiner Eltern brechen müsste. Dafür könnte er an dem Entführer all seine aufgestaute Wut auslassen … Wütend ist auch der Kriegsveterinär, der zu seiner verkorksten Familie in die USA zurückkehrt: Seine Frau wohnt mit den Kindern bei einem anderen, seine Schwester lässt ihn nicht einmal ihr Baby halten, seine Mutter hat einen neuen Freund und muss ihr Haus räumen. Ist schon ziemlich beschissen, das Leben …

… vor allem für die Figuren in den zehn Short Storys von George Saunders. In einer Obstschale voller Äpfel sind sie die Früchte mit den angeschlagenen Stellen. Die schon ein wenig faulig sind. Die keiner mehr will. George Saunders‘ Kurzgeschichten sind dystopisch, verwirrend, böse, amüsant, traurig. Sie spielen in der Gegenwart oder einer Art Zukunft, die sich unheimlich real anfühlt – in der Menschen beispielsweise daran arbeiten, das Menschsein selbst zu beherrschen. Die Charaktere in diesen verrückten Storys sind alt und jung, manchmal dumm, immer ein wenig hilflos, immer ein wenig verzweifelt. Und der Autor hat nicht das geringste Mitleid mit ihnen, lässt sie im Spinnennetz seiner Worte zappeln wie kleine, harmlose Eintagsfliegen, lässt sie scheitern an einer grausamen Welt.

Der vielfach ausgezeichnete Schriftsteller und Englisch-Universitätsprofessor George Saunders setzt mir mit Zehnter Dezember ganz schön zu. Nach den ersten drei Geschichten brauche ich erst mal eine Verschnaufpause. Er seziert unsere Gesellschaft auf sprachlich derbe Weise, mit Elementen, die wie Science-Fiction anmuten, aber auch etwas unheimlich Reales an sich haben. Nicht jede Geschichte liest sich flüssig, im Gegenteil, sperrig sind sie, hölzern, unwillig, praktisch das Gegenteil von poetisch. Fast so, als wollten sie mir gar nicht gefallen, als kümmerten sie sich nicht um mich, den Leser. Sie lassen sich von mir betrachten, aber nicht betreten, und ich finde bei mehreren Storys nicht den geringsten Zugang zu den Erzählern. Deshalb stehe ich hinter einem Absperrband und recke neugierig den Hals, um irgendwas von den abstrusen Vorgängen zu erkennen, die sich da vorn irgendwo abspielen. Diese Kurztexte sind wahnwitzig, stellenweise unverständlich, aber sie scheren sich nicht darum – und das macht sie wiederum so gut.

Banner

Zehnter Dezember von George Saunders ist erschienen im Luchterhand Literaturverlag (ISBN 978-3-630-87427-2, 272 Seiten, 19,99 Euro).

Was ihr tun könnt:
Mit einer Leseprobe in das Buch hineinschmökern.
Die Rezensionsnotizen im Perlentaucher lesen.
Euch eine hymnische Besprechung auf spiegel.de zu Gemüte führen.
Die sehr begeisterte Rezension von Sophie lesen.
Das Buch auf ocelot.de bestellen.

Andere hervorragende Kurzgeschichten:
John von Düffel: Wassererzählungen
Amy Hempel: Die Ernte
Molly McCloskey: Liebe

Für Gourmets: 5 Sterne

ErdrichDer Tanz mit der Rache
Im Jahr 1988 wird in einem Indianerreservat in North Dakota die Mutter des 13-jährigen Joe brutal vergewaltigt und kommt nur knapp mit dem Leben davon. Schwer traumatisiert, schließt sie sich in ihrem Zimmer ein, während für Joe ein Sommer voller Herausforderungen beginnt: Neben pubertären Träumen von den Brüsten seiner Tante Sonja, heimlichem Alkoholkonsum und unheimlichen Geisterbegegnungen ist er besessen von der Mission, den Mann zu finden, der seine Mutter angegriffen hat. Er ist überzeugt, dass sie weiß, wer es war, es aber nicht verrät. Joes Vater, seines Zeichens Stammesrichter, verzweifelt an seiner eigenen Hilflosigkeit und der Untätigkeit der Behörden. Also schwingt Joe sich gemeinsam mit seinem besten Freund Cappy aufs Rad und sucht nach Spuren. Tatsächlich finden sie so einiges: wahnsinnig viel Geld, eine fürchterliche Wahrheit und den Mut, etwas ganz Unglaubliches zu tun.

Louise Erdrich hat indianische Wurzeln und widmet sich in ihrem umfassenden, preisgekrönten Werk der Geschichte und der Lebenswelt dieses gegeißelten Volks. Ihre Romane sind fiktiv, aber getragen von der schmerzvollen Realität. Auch diesem Buch liegt eine dunkle Wahrheit zugrunde: Vergewaltigungen von Indianerfrauen durch Weiße werden sogar heute noch kaum geahndet. Einen gewalttätigen Übergriff macht die amerikanische Schriftstellerin zum Ausgangspunkt für eine Story, die wild, klug, spannend, prickelnd und furchterregend ist – eine Geschichte mit Sogwirkung, die mich atemlos macht, mich durch die Seiten hecheln lässt zusammen mit Joe, auf der Suche nach Gerechtigkeit. Gleich zu Beginn bin ich wie elektrisiert, und ich will nur noch eins: weiterlesen. Mit dem 13-jährigen Joe hat Louise Erdrich einen liebenswerten Helden geschaffen, der stolz ist auf seine Andersartigkeit, aber schwer zu tragen hat am Schicksal der Indianer und der konkreten Ungerechtigkeit, die seiner Familie widerfährt. Er will Rache – aber er will auch Bier und ersten Sex. Er schlüpft gerade aus der Haut eines Kindes und schultert plötzlich eine Verantwortung, der er kaum standhalten kann. Die Politik und der Hass zwischen Indianern und Weißen schwingen stets mit, sind Ursache und erneute Wirkung der Ereignisse.

Louise Erdrich ist mir bereits mit dem Roman Spuren begegnet, den ich unheimlich, faszinierend und sehr fremdartig fand. Das Haus des Windes konzentriert sich nicht so sehr auf die alten Bräuche, Überlieferungen und Naturverbundenheiten der Indianer, obwohl diese Besonderheiten stets im Hintergrund präsent sind – und das macht das Buch so gut. Unter anderem. Denn neben dem originellen und überaus interessanten kulturellen Background gibt es da noch das überragende Talent der Autorin. Und die packende Dramaturgie der Geschichte. Und die sympathischen, lebensnahen Figuren. Und die traurige, knisternde, angespannte Stimmung. Das Haus des Windes ist wie ein Ritt auf einem wilden Mustang – ein Abenteuer, von dem ich nicht weiß, wohin es mich führt, etwas Ungewöhnliches, Unvergessliches. Louise Erdrich ist eine begnadete Erzählerin, und davon abgesehen, dass ihre Bücher politisch und kulturell von Bedeutung sind, sind sie auch einfach gut zu lesen. Ich bin zwar nicht mit jeder Wendung im Roman einverstanden, fühle mich aber seltsam angezogen von dieser verrückten, packenden, sehr gelungenen Geschichte. Hervorragend und absolut empfehlenswert!

Banner

Das Haus des Windes von Louise Erdrich ist erschienen im Aufbau Verlag (ISBN 978-3-351-03579-2, 384 Seiten, 19,99 Euro).

Was ihr tun könnt:
Euch eine Leseprobe dieses Buchs ansehen.
Die Rezension auf ndr.de lesen.
Ein Gespräch mit Louise Erdrich anschauen.
Das Buch bei ocelot.de bestellen.

Andere gute Bücher mit jugendlichen Helden:
Jesmyn Ward: Vor dem Sturm
Paola Predicatori: Der Regen in deinem Zimmer
Jonas T. Bengtsson: Wie keiner sonst

Netter Versuch: 2 Sterne

Homes„O mein Gott, das ist ja der reine Wahnsinn. Die sind irre. Das ist eine totale Freakshow“

Die handelnden Personen:
– Harry, Unidozent mit Nixon als Spezialgebiet
– Claire, seine Frau
– George, Harrys Bruder, erfolgreicher Fernsehproduzent
– Jane, Georges Frau
– Ashley und Nate: die halbwüchsigen Kinder von George und Jane

Die Gründe dafür, dass alles den Bach runtergeht:
– George verursacht einen Autounfall, bei dem nur ein Junge überlebt, seine Eltern sterben.
– Harry fand seine Schwägerin immer schon geil.
– George rastet aus und tut etwas, das seine Familie für immer zerstört. Und zwar so richtig.
– Ashley und Nate, beide im Internat untergebracht, sind jetzt praktisch elternlos, und Harry muss sich um sie kümmern.
– Harrys Frau Claire verlässt ihn. Und er hat Bock auf Sex.

Die unkontrollierbaren Folgen:
– Ein Urlaub mit dem Jungen, dessen Eltern bei dem Unfall umgekommen sind.
– Ein Gefängnislager im Freien, in dem die Insassen ums Überleben kämpfen.
– Die dementen Eltern einer wildfremden Frau im Haus.
– Eine lesbische Affäre.
– Eine Reise nach Afrika.
– Ein Schlaganfall.
– Unverbindlicher Sex mit Frauen aus dem Internet.
– Ein Name, der abgekürzt ASS ergibt.
– Ein Jobverlust.
– Kurzgeschichten, die angeblich Nixon geschrieben hat.

A. M. Homes hat mich überfahren. Ihr Roman Auf dass uns vergeben werde ist wie ein tonnenschwerer Laster, der nicht für mich gebremst hat. Im Gegenteil. Auf 659 Seiten knallt sie mir eine Flut an Ideen, Wendungen und Verrücktheiten um die Ohren, dass mir ganz anders wird. Sie hat Fantasie. Sie hat gute Pointen. Aber sie hat, was mich betrifft, weit übers Ziel hinausgeschossen – wenn das Ziel in Italien läge, wäre A. M. Homes auf dem Mars. Was aber in diesem Buch schon wieder gar nichts Ungewöhnliches wäre. Denn hier kann einfach alles passieren – und das tut es auch. Während ein John Irving, Meister der genial-abstrusen Einfälle, genau weiß, wann es genug ist, legt die amerikanische Autorin noch eins nach. Und noch eins. Holla die Waldfee! Freilich kann sie schreiben. Sehr gut sogar. Ich mag den lakonischen, knallharten, abgedrehten Ton ihres Buchs, und ich weiß auch ihre originellen Einfälle durchaus zu schätzen. Aber ich muss zugeben: Sie hat mich schlicht mit der Menge dieser Einfälle überfordert. Mir ist beim Lesen die Puste ausgegangen.

Das ist wiederum ziemlich ironisch, denn: Ich langweile mich ja schnell. Und in vielen Büchern passiert mir zu wenig. Aber A. M. Homes hat mir derart viel Stoff geboten, dass ich der Reizüberflutung erlegen bin. Robert Nixons Kurzgeschichten, eine Liaison zwischen Lehrerin und Schülerin, das Abschalten lebenserhaltender Maßnahmen, ein vermisstes Mädchen, das überhaupt keiner kannte, geisteskranke Ärzte und Anwälte – was bei anderen zwei Bücher füllen würde, reicht bei der preisgekrönten amerikanischen Schriftstellerin, die für Auf dass uns vergeben werde den Women’s Prize for Fiction erhalten hat, gerade mal für 50 Seiten. Und das Merkwürdigste ist: Die Figuren im Buch finden das völlig normal. Genau wie die Kritiker, die sich vor Lob nur so überschlagen. Wer also Lust auf ein waghalsiges Abenteuer hat, sollte in diesen Laster einsteigen. Er wird Dinge erleben, von denen er nicht mal zu träumen wagte. Und sich garantiert nicht fadisieren. Neugierig geworden? Ich wünsche gute Nerven – und viel Vergnügen!

Banner

Auf dass uns vergeben werde von A. M. Homes ist erschienen bei Kiepenheuer & Witsch (ISBN 978-3-462-04610-6, 672 Seiten, 22,99 Euro).

Was ihr tun könnt:
– Sophies sehr begeisterte Rezension lesen. Sie beschreibt das Buch als „bösartig-schamloses, liebevolles, zutiefst menschliches und humorvolles Erlebnis“ und hat es mit fünf Sternen bewertet.
– Auf der Website von A. M. Homes vorbeischauen.
– Ein Interview mit der Autorin ansehen.
– Das Buch bei ocelot.de bestellen.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Helle„Solange ich die Dinge nur denke, tun sie niemandem was“
„Mein Problem ist, ich liebe eine Frau, aber ich glaube, ich werde irgendwann aufhören, sie zu lieben, und ich lehne eine Welt ab, in der das möglich ist. Mein Problem ist, ich bin Philosoph, und ich beschäftige mich mit Bewusstsein, also mit dem, was man früher Seele genannt hat, und ich habe manchmal Angst, die anderen könnten recht haben, die sagen, Bewusstsein ist nur eine Illusion, denn wenn sie recht haben, sind wir, wenn wir tot sind, einfach tot.“ Probleme hat der junge Philosoph allerhand:
1. Er ist in New York. Die Frau, die er liebt, ist nicht in New York.
2. Er soll einen Vortrag über das Bewusstsein halten, und ihm fällt kein Wort ein.
3. Er denkt. Zu viel. Nie kann er aufhören zu denken: „Als ich zu Hause bin, setzte ich mich an den Küchentisch und versuche, an nichts zu denken. Es klappt nicht. Je konzentrierter ich die Wörter aus meinem Bewusstsein wegschiebe, desto härter prallen sie wieder zurück, von den Wänden, den Möbeln, den ungeöffneten Briefen zwischen den alten Zeitungen auf dem Tisch, von der Farbe des Himmels, der Form der Wolken, dem Geruch in der Küche.“
4. Er kann nicht glücklich sein: „Ich überlege, ihr zu sagen, dass ich nur dann glücklich bin, wenn ich mich nicht frage, ob ich glücklich bin, und dass ich mich das eigentlich immer frage, außer wenn ich esse, saufe, scheiße oder ejakuliere.“
5. Er kann nicht treu sein. Nicht einmal ein bisschen: „Es ist mir physikalisch nicht möglich, das Auftauchen eines weiblichen Körpers in meinem Gesichtsfeld zu ignorieren.“
6. 1–5 sind ihm stets bewusst und er denkt ohne Unterlass darüber nach.

Heinz Helle hat in New York studiert – und zwar Philosophie. Anders gesagt: Damit hat er quasi Recherchearbeit betrieben für seinen ersten Roman Der beruhigende Klang von explodierendem Kerosin. Denn der Protagonist, der namenlose Ich-Erzähler, befindet sich in New York – und er ist Philosoph. Das Denken über das Denken bestimmt all sein Tun, seine Wahrnehmung, jede Minute seines Seins. Es gibt für ihn keinen Zustand, in dem er frei wäre vom Philosophieren. Und das ist sehr anstrengend. Nicht nur für ihn, auch für mich. Denn ich bin zwar nicht auf der Nudelsuppe dahergeschwommen, fühle mich aber, wenn ich die ganze Zeit über die Box in der Box in der Box nachdenke, irgendwann komplett zusammengeschrumpelt. Das klingt dann so: „Wenn man, während man etwas tut, außerdem denkst, dass man etwas tut, ist man weniger gut in dem, was man tut, weil man ja einen Teil von dem, was man braucht, um zu tun oder zu denken, dafür verwendet zu denken, was tu ich hier eigentlich?“ Ich kann mich die ganze Lektüre über nicht entscheiden, ob ich den Herrn Philosoph vor Mitleid umarmen oder ihm eine Kugel zwischen die Augen jagen will.

Das Leben ist kompliziert. Und für den Ich-Erzähler in Der beruhigende Klang von explodierendem Kerosin ist es sogar so kompliziert, dass man sich fragt, wie er es eigentlich erträgt. Er verwickelt sich so sehr im Strudel seiner Gedanken, dass er alles, woran ihm etwas liegt, an die Wand fährt. Er kann das Leben nicht genießen. Nur in vereinzelten hellen Augenblicken gelingt es ihm, sich von dieser Selbstbehaftung zu lösen: „Wir sehen und hören nichts mehr, wir sind einfach da, an einem zufälligen Ort, zu einem zufälligen Zeitpunkt, und unsere Gehirne hören auf, Informationen über die Umgebung zu prozessieren oder Daten zu analysieren, Pläne, Ideen, Gründe dafür, dass wir hier sind, dass wir wir sind, dass wir sind, Die Welt ist hell, windig und kalt. Und wir sind in ihr.“ Dieser Roman, der mit gerade mal 159 Seiten recht fragmentarisch bleibt, liest sich wie ein innerer Monolog – und ist dabei wirklich gut geschrieben. Heinz Helle hat am Schweizerischen Literaturinstitut gelernt und arbeitet als Werbetexter, er hat beim Ingeborg-Bachmann-Preis gelesen und wurde mit dem Ernst-Willner-Preis ausgezeichnet, er weiß, was er tut. Wer sich mit Philosophie beschäftigen mag, wer einen Hang zu melancholischem Nachdenken hat, ist damit ganz sicher gut bedient. Ich hab es gern und schnell gelesen, und am Ende war ich froh, kein Philosoph zu sein. Ich hätte mir längst selbst zwischen die Augen geschossen.

Banner

Der beruhigende Klang von explodierendem Kerosin von Heinz Helle ist erschienen im Suhrkamp Verlag (ISBN 978-3-518-42398-1, 159 Seiten, 18,95 Euro).

Was ihr tun könnt:
Dem Autor beim Lesen zuhören und die lobenden Worte der Zeit vernehmen, die den Roman souverän, intelligent und geglückt nennt.
Ein paar Rezensionsnotizen beim Perlentaucher dazu lesen.
Euch ein Interview mit Heinz Helle im Regen anschauen.
Das Buch bei ocelot.de bestellen.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Carrere„Du als Schriftsteller, wirst du über all das schreiben?“
Dass ihr Hotel auf der „richtigen“ Seite des Strandes steht, rettet dem Schriftsteller Emmanuel Carrère und seiner Freundin Hélène sowie ihren jeweiligen Söhnen das Leben: Sie befinden sich 2004 während des Tsunamis auf Sri Lanka. In den Tagen, die auf die Riesenwelle folgen, erleben sie das Leid derer, die einen geliebten Menschen verloren und selbst überlebt haben, sie sehen Berge von Leichen, und sie, die sich gerade noch trennen wollten, sind derart erschüttert, dass ein ganz neuer Zusammenhalt zwischen ihnen entsteht: „Wir spürten, wie zerbrechlich unsere Körper waren. Ich sah den von Hélène an, so schön, so erschöpft von Müdigkeit und Schrecken. (…) Ich dachte: Sie könnte tot sein. Sie ist kostbar für mich. So kostbar. Ich möchte, dass sie eines Tages alt ist und ihre Haut müde und schlaff und dann möchte ich sie immer noch lieben.“ Wieder zuhause, wartet alsbald die nächste Tragödie: Hélènes Schwester Jeanette stirbt an Krebs. Ihre drei kleinen Töchter und ihr Mann Patrice bleiben allein zurück. Emmanuel erlebt das Geschehen unmittelbar, beobachtet es aber stets auch von außen: „Ich war und bin Drehbuchautor, mein Handwerk besteht unter anderem darin, dramatische Situationen zu konstruieren, und eine der Regeln dieses Berufs ist, keine Angst vor Übertreibung und Melodramatik zu haben. Und doch glaube ich, dass ich mir in einem fiktionalen Werk verboten hätte, etwas so unverschämt Tränenrühriges zu erfinden wie kleine Mädchen, die auf einem Schulfest tanzen und singen, während ihre Mutter gleichzeitig im Krankenhaus im Todeskampf liegt.“ Aber das Leben ist erbarmungslos, und Emmanuel hat sich selbst zum Berichterstatter gemacht – er gibt auch weiter, was ihm Jeanettes Arbeitskollege Étienne erzählt über seine Krebserkrankung, seine Amputation, seinen Beruf als Richter. Was uns all das sagt? Dass es jeden Tag ein Glück ist, wenn man noch mal davongekommen ist.

„Ich mag Auslassungen nur als Stilmittel, und auch nur, wenn ich sie richtig einordnen und genügend kontrollieren kann, sonst machen sie mir Angst. Vielleicht, weil es in meinem Leben einen Riss gibt. Und weil ich hoffe, ihn reparieren zu können, indem ich das Grundgerüst dieses Lebens so detailreich wie möglich beschreibe.“ Emmanuel Carrère, Tausendsassa in den Bereichen Regie, Drehbuch und Schriftstellerei, erzählt in Alles ist wahr genau das: alles, was passiert ist. Er tut dies mit chirurgischer Präzision und einer faszinierenden Mischung aus emotionaler Involviertheit und kritischen Distanz, die fast ein wenig makaber wirkt. Während der Lektüre fange ich an, nachzudenken, wie mein Leben klingen würde, fasste ich es auf so banale und zugleich lesenswerte Weise in Worte (wäre ich dazu fähig). Für mich ist alles, was Carrère schreibt, trotz des Wahrheitsgehalts Fiktion, weil ich keine der Figuren, deren Geschichten zwischen diese Buchdeckel gepresst sind, persönlich kenne, sie bleiben Romancharaktere für mich. Interessant finde ich Emmanuel Carrères Art, die Wahrheit zu sagen und die Lücken im Erlebten – die Gefühle und Eindrücke der anderen, die er nicht wissen kann – mit seiner Fantasie zu füllen, während er mich zugleich nie vergessen lässt, dass er eben genau das tut. Der Schreibprozess an sich ist stets Thema im Text. Das ist manchmal irritierend, manchmal auch schmerzhaft, weil es zeigt: Nichts ist erfunden, all diese Menschen sind wirklich gestorben. Dieses Buch ist ein kleines Stück Lebensgeschichte, ein Abbild, ein Ausschnitt von ein paar wenigen Schicksalen auf diesem Planeten, aufgezeichnet und festgehalten, um sie erinnerbar zu machen, greifbar, wenn auch nur auf dem Papier. Alles ist traurig, alles ist schön, alles ist wahr.

Banner

Alles ist wahr von Emmanuel Carrère ist erschienen im Matthes & Seitz Verlag (ISBN 9783882219517, 247 Seiten, 19,90 Euro).

Was andere über dieses Buch sagen:
„Alles ist wahr passt in unsere krisenhafte Zeit. Nicht nur, weil Carrère von existentiellen Verunsicherungen erzählt, sondern auch, weil er das mit dem Anspruch unironischer Aufrichtigkeit tut“, heißt es auf spiegel.de.
„Alles, was wir erleben, alles Leid und jede Geschichte, ist in ihren Facetten wahr, so, wie wir sie erleben. Und sie ist es wert, erzählt zu werden. Kaum jemand kann das heutzutage besser als Emmanuel Carrère“, schreibt Sophie von literaturen.
Und bei ocelot.de könnt ihr den Roman bestellen.

Gut und sättigend: 3 Sterne

HischmannPeng! Peng! PENG!
„Ich sitze zwischen Jan und Maria, und es fühlt sich an, als müsste es genau so sein.“ Als Kinder hatten sie eine Bande, Jan, Maria und Max. Dann hat Max versucht, Jan umzubringen, und Maria wurde seine erste Freundin. Das alles ist jedoch Jahre her, und die drei haben längst keinen Kontakt mehr. Erst als Max, inzwischen 29 und Lehrer, in sein Heimatdorf fährt, um den Hund zu hüten, während die Eltern im Urlaub weilen, laufen die ehemaligen Freunde einander über den Weg. Jan und Maria leben auf einem alten Hof, den Jan geerbt hat, zusammen mit anderen Freunden, sie bauen Gemüse an, trinken viel Wein, genießen den Sommer. Max lässt sich anstecken vom Easy-going-Lebensgefühl, das hier herrscht: „Schon wieder Weißwein, schon wieder Nebel im Kopf. Ich hab bereits Maria geküsst und Julia und Pelle und außerdem zweimal die Wahrheit gesagt.“ Er hat außerdem Bock, Jan zu küssen, denn Max legt sich nicht fest, er bevorzugt nicht Männlein oder Weiblein, er nimmt beides. So verbringt er feine Sommertage mit seinem schwulen besten Freund Valentin, der eigens angereist ist – bis eine furchtbare Nachricht seinem ganzen lockeren Lebensstil ein jähes Ende setzt.

Fabian Hischmann, Jahrgang 1983, hat mit seinem Debüt auf sich aufmerksam gemacht und fand sich mitten in einer Debatte darüber wieder, dass, so heißt es, die akademischen Schreibschulen langweilige Literatur hervorbringen. Fabian Hischmann hat an diesen Schulen studiert, und wer in die Debatte einsteigen will oder sich für die Hintergründe interessiert, sollte sein Buch am besten einfach selbst lesen. Immerhin war es auch für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Mich hat der Titel zum Buch hingezogen, und als ich es in der Hand halte, gefällt mir auch das Cover außerordentlich gut: Transparent aufgedruckt ist „Peng“, ein Schuss, ein Geräusch, das immer wieder auftaucht im Roman, als Hinweis, Schrecksekunde, Einbildung. Und dann lerne ich Max kennen: Ende zwanzig, falscher Beruf, unverheiratet, kinderlos, sexuell flexibel, sehr schweigsam, sehr phlegmatisch. Als die Ferien beginnen, weiß er nichts mit sich anzufangen – außer fernzusehen und an seinem Schwanz rumzufummeln. Auch wenn er keine Lust drauf hat, den Hund zu bemuttern, bedeutet der Ausflug in seine Vergangenheit doch auch eine willkommene Abwechslung. Denn bevor man 30 wird, lässt man ja gern das bisherige Leben Revue passieren, sondiert die Lage, wägt ab, grübelt, fragt sich, wohin die Reise führt. Max führt sie recht überraschend nach Griechenland und nach New York und letztlich ein Stück weit zu sich selbst – ein bisserl Coming of age eben.

Es gibt Momente, da bin ich ganz bei Fabian Hischmann und seinem Protagonisten, mit dem er ganz zugespitzt den Zeitgeist einfängt und das Lebensgefühl einer Generation porträtiert: nur nicht festlegen, ein bisschen jobben, ein bisschen Sex, no strings attached. Und das wäre in Max‘ Fall sicher noch eine Weile gutgegangen, aber der Autor haut ihm das Hackl zwischen die Beine – damit halt was passiert in seinem Leben und in diesem Buch. Es gibt allerdings auch Momente, in denen der Autor mich völlig verliert und ich mich frage: WTF? Das liegt an der allgemeinen Orientierungslosigkeit von Max, der sich treiben lässt, anstößt, zurückrudert, überhaupt keinen Plan hat. Zwischendrin hab ich einfach keine Geduld mehr mit diesem Roman, vor allem in der New Yorker Episode, die mir überzogen und überflüssig zugleich erscheint. Sprachlich gesehen ist das Buch kühl, ein wenig unnahbar, manchmal steif trotz der Kraftausdrücke und des jugendlichen Jargons, der alles auflockern soll. Aufgrund der Einfachheit und Klarheit der Sprache ist der Roman jedoch sehr gut zu lesen, die Kapitel sind kurz, die Struktur unkompliziert. Das finde ich gut, aber mir fehlt ein wenig die Raffinesse. Am Ende schmeißen wir mit Gold ist wie Max selbst: interessant, bis zu einem gewissen Grad originell, letztlich aber irgendwie austauschbar, ohne richtige Ecken und Kanten, ohne wirklich tiefe seelische Abgründe. Glänzend getroffen hat Fabian Hischmann die sommerliche Leichtigkeit, das Jungsein, das Herumvögeln. Es gibt also durchaus ein Peng! Wenn auch ein sehr leises.

Banner

Am Ende schmeißen wir mit Gold von Fabian Hischmann ist erschienen im Berlin Verlag (ISBN 978-3-8270-1148-0, 256 Seiten, 18,99 Euro).

Was ihr tun könnt:
Die Rezension zum Buch in der Zeit lesen.
Dem Autor beim Lesen zusehen.
Den Roman auf ocelot.de bestellen.

Andere Bücher über das Erwachsenwerden:
Mikael Niemi: Populärmusik aus Vittula
Paola Predicatori: Der Regen in deinem Zimmer
Jan Christophersen: Echo

Gut und sättigend: 3 Sterne

Schubiger„Man kann das nicht erzählen. Sie wärmten sich mit ihren Leibern, die beiden Menschen“
Paul ist etwas zugestoßen, eine Krankheit, ein Koma, und während der Körper in der Reha seine Funktionen wieder erlangt hat, sind im Gedächtnis Löcher zurückgeblieben: „Pauls Erinnerung war meist nicht verdunkelt oder erloschen, sondern bloss ein wenig defekt.“ Paul kann nicht zurück an den Schreibtisch im Büro, er war Journalist, hat sich aber, so glaubt es sein Chef, zu sehr verloren in den eigenen Reportagen. Pauls Frau Marion hat ihn zwar nicht verlassen, ist aber auch nicht mehr so richtig da: Sie steht ihm bei seiner Genesung zur Seite – wenn sie nicht gerade Zeit mit einem anderen Mann verbringt. Die Liebe existiert noch, liegt allerdings begraben unter der Last, die Pauls Anderssein für die Ehe bedeutet. Er hat viel vergessen und muss sich wieder bewusst machen, was das meint, das Leben. Er spaziert durch die Welt, betrachtet sie, denkt sie: „Pauls Kopf war nicht wählerisch in seinen Gedanken. Er ging vor sich hin. Er hätte singen mögen, unterliess es aber. Wenn er so weitermachte, lernte er noch fliegen.“ Es gibt auch ein Kind in Pauls Leben und eine andere Frau, Claire, der er eines Tages zu ihrer Wohnung folgt, und die ihn hineinlässt, einfach so: „Wurden sie ein Liebespaar?, fragte er. So kann man das nicht sagen. Es war das alte Unglück und die neue Not, die sie zusammenbrachte.“

Der Schweizer Autor Jürg Schubiger, der früher als Psychologe gearbeitet hat und vor allem für seineKinderbücher bekannt ist, erzählt in Nicht schwindelfrei von einem Mann, dem Erinnerungen abhandengekommen sind – und den das gar nicht stört. Die Versehrtheit hat Paul zurückgeworfen auf eine naive, freundliche Kindlichkeit, er sieht sich die Welt an und teilt sie nicht mehr ein in die alten, stupiden Kategorien, er sieht sich die Welt an und freut sich, dass es sie gibt. Seiner Frau gefällt das nicht, sie hätte gern einen Mann, der rundum funktioniert, und sucht ihn sich deshalb woanders. Und es wirkt, als seien auch Pauls Gefühle defekt, denn das verletzt ihn nur am Rande, alles ist ihm entwischt, alles muss er sich neu aneignen, er grübelt, überlegt, beobachtet, betastet: „Für alles stand ein Wort bereit: Frühblüher, Hautflügler, Patientenverfügung. Die Wörter waren schon fertig da, ausnahmslos alle, bevor man überhaupt zu reden anfing. Das Reden brachte sie immerhin ein wenig ins Wackeln.“

Nicht schwindelfrei ist ein Büchlein, ein Geschichtlein. Freilich ist es nicht möglich, auf 112 Seiten einen Charakter so zu beleuchten, dass ich als Leserin ihn kennenlerne mit all seinen Facetten. Das finde ich schade, es hätte mir gefallen, mehr zu erfahren über Paul, Marion und Claire, mehr in die Hände gelegt zu bekommen als nur dieses Mosaikstück. Es bleibt mir überlassen, die Geschichte weiterzudenken in ihren Möglichkeiten, und angeblich schätzen Stammleser dies an Jürg Schubiger, aber ich bin vielleicht denkfaul, ich hätte sie ganz einfach lieber noch weitergelesen. Melancholisch ist diese Erzählung, traurig nicht, eher kindlich-hoffnungsfroh, heruntergebrochen auf das Essenzielle. Was bedeutet es, ein Mensch zu sein? Nur zu leben. Einfach so.

Banner

Nicht schwindelfrei ist erschienen im Haymon Verlag (ISBN 978-3-7099-7139-0, 112 Seiten, 17,90 Euro).

Was ihr tun könnt:
Mehr über Jürg Schubiger erfahren.
Im Bücherwurmloch nach anderen Schweizer Autoren suchen.
Das Buch bei ocelot.de bestellen.

we_read_indie_header

Für Gourmets: 5 Sterne

Düffel„Das wirkliche Leben macht keine Ausnahmen“
Wasser! Wasser. Lebensrettend kann es sein – und tödlich. Heiß, klar, brausend, reißend, still. Wasser ist unser Element, wir sind Wasser. Und in all seinen Facetten taucht es auf in den elf – der Titel verrät es – Wassererzählungen von John von Düffel. Manchmal blubbert es sich in den Mittelpunkt, manchmal muss ich es suchen, der plätschernden Fährte folgen, aber es ist immer da. In der Geschichte eines Schwimmers, der in der bitterkalten Ostsee trainiert, im Telefonmonolog eines Vaters, der mit seiner pubertierenden Tochter eine Kreuzfahrt unternimmt, in der Erzählung über eine Schwangere, die ihr ungeborenes Kind verliert, genauso wie im Dialog zweier Schwimmerinnen über die ungewöhnliche Aufgabe, möglichst ästhetisch zwei Stunden lang im Pool eines reichen Architekten Bahnen zu ziehen – nackt. Mal müssen Menschen sich verabschieden, mal finden sie zusammen, mal denken sie wehmütig an die Vergangenheit, mal leiden sie an ihrer Gegenwart. Und immer spielt es auf irgendeine Weise eine Rolle: das Wasser.

Klirrend kalt ist John von Düffels erste Story „Ostsee“, so kalt, dass ich geschockt bin, die Augen aufreiße, keine Luft mehr bekomme und am Ende nur denke: Wow. Ich glaube, das ist die beste Kurzgeschichte, die ich bisher gelesen habe. Weil sie so schneidend ist, so klar, so einfach und doch so vielschichtig. Ich bin derart geflasht, dass ich mich einen Moment lang gar nicht traue, weiterzulesen. Was kann da noch kommen, was tut dieser Autor mir an, der mich mit der ersten Geschichte gleich aufspießt? Was schüttet er über mir aus mit diesen elf ums Wasser gruppierten Geschichten? Pures Menschsein. Abschiednehmen und Verzeihen, Liebe, Hoffnung, das lähmende Gefühl, vom Alltag erstickt zu werden, nicht zu genügen, das ewige Buhlen um Aufmerksamkeit. Amüsant sind die Geschichten, auf eine sehr abgeklärte Weise, ehrlich, abgründig, sehr intelligent. John von Düffel, der als Dramaturg und Professor arbeitet, hat bereits mehrere Romane veröffentlicht, die mit Preisen bedacht wurden. Es wundert mich nicht. Er schreibt meisterhaft. Und das Wasser scheint ihn zu faszinieren, sein erstes Buch 1988 hieß Vom Wasser, er selbst schwimmt leidenschaftlich gern.

„Eine Bläue, die allen Dunst und Nebel, die Wolken und Schwaden in sich aufgesogen und verwandelt hat in einen Reifatem, der die Sonne blass macht, eine gefrorene Scheibe aus Licht.“ Poetisch sind die Wassererzählungen, melancholisch, manchmal verträumt, manchmal knallhart – und immer saugut. Nicht jede Geschichte kann mich begeistern und keine so wie die erste, doch nach der anfänglichen Schrecksekunde springe ich kopfüber in dieses seltsame, aufwühlende Buch, lasse die Emotionen über mir zusammenschlagen, tauche ein in die wunderbare Sprache, höre es sprudeln, gurgeln, zischen. John von Düffel hat verschiedenste Themen und unterschiedliche Erzählstile gewählt, sodass jede Story einzigartig und unverkennbar funkelt. Ich mag das, und ich mag es so sehr, dass ich nicht will, dass dieses Buch endet. Leider tut es das doch. Aber wenn ich Glück habe, schreibt John von Düffel noch so eins für mich. Ich würde es lesen, und wer mich kennt mit meiner merkwürdigen Angewohnheit, nie mehr als ein Buch vom selben Schriftsteller zu lesen, weiß, dass DAS das größte Kompliment meinerseits ist. Holt euch dieses Buch, lest es, lest es!

Banner

Wassererzählungen von John von Düffel ist erschienen im Dumont Verlag (ISBN 978-3-8321-9744-5, 256 Seiten, 19,99 Euro).

Was ihr tun könnt:
Die begeisterte und wunderbare Rezension der Klappentexterin lesen.
Ein Video über und mit John von Düffel anschauen.
Das Buch bei ocelot.de bestellen.

Andere gute Bücher, in denen Wasser eine Rolle spielt:
Marco Balzano: Damals, am Meer
Per Petterson: Im Kielwasser
Margaret Mazzantini: Das Meer am Morgen

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Mohamed„Ich finde ja, die Verrückten sind besonders schön“

Drei Frauen:
Kawsar ist alt und trauert um ihren verstorbenen Mann und ihre tote Tochter.
Filsan ist Soldatin mit großen Plänen.
Deqo ist noch ein Kind und stammt aus dem Flüchtlingslager.

Ein Ereignis:
Eine politische Veranstaltung der Regierung in einem Stadion in Hargeisa in Somalia.

Ein Zwischenfall:
Deqo gehört zu einer Gruppe kleiner Flüchtlingsmädchen, die im Stadion tanzen. Als sie von den Wachen misshandelt wird, geht Kawsar dazwischen, um sie zu schützen. Deqo flieht in die fremde Stadt, Kawsar wird ins Gefängnis gebracht, wo Filsan sie verhört und niederschlägt – wobei Kawsar sich die Hüfte bricht.

Die Folgen:
Deqo genießt die neue Freiheit und schlägt sich erstaunlich gut durch, muss aber stets um ihr Leben fürchten. Sie wird von freundlichen Prostituierten aufgenommen, die allerdings flüchten, weil die Panzer näher rücken. Als der Bürgerkrieg ausbricht, ist Deqo auf sich gestellt. Kawsar liegt bewegungsunfähig mit gebrochener Hüfte und wunden Stellen in ihrem Bungalow. Sie hat den Gedanken an ihren Mann und ihre Tochter nichts entgegenzusetzen. Ihre Nachbarinnen und Freundinnen versorgen sie, müssen sie jedoch im Stich lassen, als die Soldaten kommen. Kawsar will nicht mitgetragen werden, sondern zuhause sterben. Filsan, die treue Soldatin, die von ihrem Vater von klein auf militärisch gedrillt wurde, tötet bei einem Einsatz drei unschuldige Männer – und verliert in der Folge zunehmend die Kontrolle. Brutal und ohne Gnade schlägt das Militär jeden Aufstand nieder, und Filsan steckt mittendrin.

Und dann …
… als der Krieg beginnt, stehen sich die drei Frauen überraschend gegenüber.

Nadifa Mohamed schreibt in Der Garten der verlorenen Seelen über ihre Heimat: Sie ist in Hargeisa geboren. Aufgewachsen ist sie jedoch in London, studiert hat sie in Oxford, und ihr erster Roman Black Mamba Boy wurde mit Preisen bedacht. Ihr zweites Buch ging aus den Geschichten ihrer Mutter hervor, und ich will es authentisch nennen, denn ich habe ihr jedes Wort geglaubt. Nadifa Mohamed erweckt mit Worten ein Land zum Leben, das ich nur aus den Nachrichten kenne, besetzt mit den Schlagworten Hunger, Krieg und Tod. Davon handelt dieser Roman auch – aber nicht nur. Weil die somalischen Frauen in erster Linie dasselbe suchen wie alle Frauen weltweit: Liebe, Anerkennung, Zufriedenheit. Allerdings sind die Hindernisse für sie so gut wie unüberwindbar. Die Ausgangssperre, die Willkür des Militärs und die ständig gegenwärtige Bedrohung lähmen die Menschen in Hargeisa. Man fällt als Frau sehr schnell in Ungnade in der somalischen Gesellschaft – Kawsar hat einen grausam beschnittenen, unfruchtbaren Schoß, Deqo darf als Mädchen nicht einmal einen Laden betreten, um sich etwas zu essen zu kaufen, und als Filsan die Avancen eines Vorgesetzten abwehrt, ist ihre Karriere beinahe vorbei. Gefährlich, kräftezehrend und herausfordernd ist das Leben in Somalia – vor allem für die Frauen.

Das vorherrschende Gefühl bei der Lektüre von Der Garten der verlorenen Seelen ist bei mir das grenzenlose Glück, im fetten, reichen Europa geboren zu sein, in dem es für mich als Frau selbstverständlich ist, zu studieren, zu entscheiden, zu tun, was ich will. Die Diskrepanz könnte größer kaum sein – Deqo, Filsan und Kawsar haben keine dieser Möglichkeiten. Natürlich ist dieser Roman ein politischer, alle Ereignisse sind beherrscht vom beginnenden Bürgerkrieg. Gleichzeitig tut sich eine versteckte Welt im Alltäglichen auf, und Nadifa Mohamed zieht mich mit auf den Markt, ins Flüchtlingslager, in die überfüllten Arrestzellen, zu den duftenden, mit Schmuck behängten Huren. Ein schillernder Kosmos, in dem alle versuchen, das Beste aus dem wenigen zu machen, das sie haben. Und Nadifa Mohamed hat definitiv das Beste aus dem gemacht, was sie hat: großes schriftstellerisches Talent, Hintergrundwissen über ein mir fremdes Land, eine authentische Erzählstimme. Es ist ihr gelungen, die Atmosphäre Hargeisas mit ihren Geräuschen, Gerüchen und Gefahren in meinem Wohnzimmer heraufzubeschwören, sie hat ihren Roman perfekt strukturiert, und sie hat sich dankenswerterweise in Sachen Pathos zurückgehalten, sodass das Buch – bis auf das Ende vielleicht, aber da drücke ich schnell ein Auge zu – nicht überaus kitschig ist. Sondern traurig, dramatisch, sehr berührend und literarisch ausgereift. Ausgezeichnet!

Banner

Der Garten der verlorenen Seelen von Nadifa Mohamed ist erschienen bei C. H. Beck (ISBN 978-3-406-66313-0, 269 Seiten, 19,95 Euro).

Was ihr tun könnt:
Lesen, was im Perlentaucher zu dem Roman gesagt wird.
Euch die Meinung des Zeit-Rezensenten zu Gemüte führen.
Das Buch bei ocelot.de bestellen.

Welche Bücher mit Bezug zu Afrika ich auch gut fand:
Hundert Tage von Lukas Bärfuss
Little Bee von Chris Cleave
The Long Song von Andrea Levy