Gut und sättigend: 3 Sterne

SchäferEine Bedrohung, unheimlich und real
Gabor Lorenz ist Arzt, Neurologe, und interessiert sich für Gesichter: Er ist Spezialist für Prosopagnosie. Und ein bestimmtes Gesicht geht ihm seit dem Urlaub, den er mit seiner Frau und den beiden Kindern auf Griechenland verbracht hat, nicht mehr aus dem Kopf: Er hat beim Betreten der Fähre gesehen, wie ein Flüchtling sich auf einem LKW versteckt hat – und später festgenommen wurde. Er hat dem fremden Mann ein Sackerl mit Bananen in das Versteck geworfen, ohne daran zu denken, dass sich darin auch die Postkarten befanden, die er im Urlaub geschrieben und an seine Frau Berit im gemeinsamen Zuhause adressiert hat, um sie in der Heimat abzuschicken und im Herbst das Urlaubsfeeling wieder aufleben zu lassen. Zurück in Berlin, kommen die Karten tatsächlich an, aufgegeben in Italien, dann in Deutschland. Der Fremde kommt näher, wird zu einer Bedrohung, die Gabor ununterbrochen beschäftigt und die reale Ausmaße anzunehmen scheint, als sein 14-jährige Tochter plötzlich spurlos verschwindet …

Der deutsche Autor Andreas Schäfer, mit zahlreichen Preisen bedacht, erzählt in seinem dritten Roman Gesichter eine subtil spannende Geschichte über die Angst vor fremden Einwanderern und Flüchtlingen. Diese werden auf der griechischen Insel, auf der Protagonist Gabor mit seiner Familie urlaubt, plötzlich in Massen angeschwemmt und suchen, so sie überleben, als arme Teufel ihr Glück in Europa. Andreas Schäfers Hauptfigur ist gut situiert, erfolgreicher Arzt, führt eine angenehme Ehe, die schon lange funktioniert, und hat zwei Kinder, von denen eins, die 14-jährige Tochter, in den Ferien die erste Liebe erlebt hat. Der Teenager ist verschlossen, müde, abwesend, erzählt den Eltern nichts. Das sind die Probleme in Gabors Alltag, Patienten, ein möglicher Lehrstuhl, die Kinder. Doch durch die eintreffenden Postkarten gerät er plötzlich in Kontakt mit der Verzweiflung derer, die aus ihrer Heimat fliehen müssen, und er fängt an, sich zu fürchten. Was will der von mir?, fragt er sich, er fühlt sich beobachtet und bedroht. Diese unterschwellige Gefahr hat der Autor glänzend eingefangen, sie ist spürbar, kriecht mir zwischen den Zeilen entgegen, lähmt mich – und macht das Buch so fesselnd.

Im Verlauf der Geschichte wundere ich mich zum Teil über die Wendungen, und ich kann es meistens nicht so gut leiden, wenn nicht alles zu einem befriedigenden Abschluss kommt, aber: Ich mag diesen Roman sehr, weil er gut gemacht und gut geschrieben ist. Andreas Schäfer hat meine Neugier geschürt, mich angetrieben, weiterzulesen, bis die Seiten rauschten, ich war gespannt, interessiert, überrascht. Gesichter ist ein sehr unheimlich und dabei doch realistisches Buch, das ihr auf jeden Fall lesen solltet.

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Gesichter von Andreas Schäfer ist erschienen im Dumont Verlag (ISBN 978-3-8321-9664-6, 256 Seiten, 19,99 Euro).

Noch mehr Futter:
– „Well made“ heißt es in der Rezension auf zeit.de.
– Als „subtiler Pageturner“ wird der Roman auf buecherrezension.com beschrieben.
„Andreas Schäfer hat einen Roman über den Moment geschrieben, in dem das Leid anderer plötzlich in die eigene geordnete Lebenswirklichkeit eindringt“, sagt Sophie von Literaturen.
– Und hier könnt ihr das Buch bei ocelot.de bestellen.

Bücherwurmloch

Frühjahr 14Der Sommer ist da! Endlich. Das bedeutet: heißen Sand zwischen den Zehen, Unmengen von Eis und viele schöne Sommersprossen. Es bedeutet aber auch: Der Frühling ist vorbei – und ich habe haufenweise tolle Frühjahrstitel verschlungen. Genau 32 waren es an der Zahl. Zeit für eine kleine Rückschau.

Ich habe gelernt, Kurzgeschichten zu mögen, und hab mich ein bisschen verliebt. In Amy Hempel, Daniela Krien und vor allem in John von Düffel.

Einen absoluten Höllenritt habe ich mit A. M. Homes und Toby Barlow erlebt.

Positiv überrascht war ich von J. Courtney Sullivan und Rhidian Brook.

In fremde Welten entführt haben mich Nadifa Mohamed und Elif Shafak.

Meine drei Highlights des Frühjahrs 2014 sind definitiv Louise Erdrich, Brittani Sonnenberg und Yasmina Reza.

Auch alle anderen Romane haben mir zum Großteil viel Vergnügen bereitet und mir erneut bewiesen, wie grandios es ist, dass es eine solche Bandbreite an Verlagen und Büchern aller Richtungen gibt. Ein herzliches Dankeschön mit gelupftem Hut für die bereitgestellten Leseexemplare geht an dtv, Ullstein, Dumont, Luchterhand, Piper, S. Fischer, Arche, Berlin Verlag, Bertelsmann, Hanser, C. H. Beck, Kiepenheuer & Witsch, luxbooks, Zsolnay, Aufbau, Atlantik, Osburg, Blessing, Residenz, Haymon, Matthes & Seitz, Kein & Aber, Antje Kunstmann, mare, Suhrkamp.

Welches war euer liebstes Buch in diesem Frühjahr?

Gut und sättigend: 3 Sterne

Roßbacher„Aber kann man die Sterne löschen, wenn sie einem die Zukunft weisen? Nein. Man kann sie nur weiträumig umfliegen“
David Stanjic ist aus Österreich geflohen, ist ja nicht zum Aushalten dort, und verirrt sich seither regelmäßig in Berlin. Frederik von Sydow hätte wirklich, wirklich gern eine Frau und nicht nur eine Oma mit einem beliebten Café. Simon Glaser macht Filme, die kein Mensch versteht. Und zusammen machen sie Hausmusik. Es wird geträllert und geschwurbelt, geredet und schwadroniert, im Kreis gedacht und theoretisiert. Eine Frau kommt auch ins Spiel, und schließlich gibt’s auch einen Toten – nur eignen sich die drei verschrobenen Gestalten leider so gar nicht als Detektive. Das bedauert auch die Erzählerin, die Teil der Ereignisse ist und nur mit Mühe den Überblick behält – während ihr Lektor ihr dauernd ins Handwerk pfuscht, mit motivierenden Anmerkungen wie: „Du musst das übrigens nicht dermaßen ausführlich erzählen, das ist nicht interessant.“

Tut sie aber. Verena Roßbachers Roman Schwätzen und schlachten ist das ausführlichste, detailgetreuste, abschweifendste und geschwätzigste Buch, das ich je gelesen habe. Es wird geredet, sehr, sehr, sehr viel geredet, eine Flut an Worten stürzt auf mich zu, begräbt mich unter „weitschweifigen Erklärungen, umsichtigen Erörterungen, langwierigen Reden“. Das Kuriose daran? Es könnte auch das langweiligste Buch sein, ist es aber nicht. Ich finde es amüsant. Bis zu einem gewissen Grad zumindest, denn ich brauche mehrere Verschnaufpausen und muss gestehen, dass ich mich ab und zu aus einem ewig dahinfließenden Monolog aus- und später im Buch wieder eingeklinkt habe. Unterhaltsam ist diese endlose Fabuliererei auch deshalb, weil die Autorin sich auf einer Metaebene – im Gespräch mit ihrem Lektor Olaf – genau darüber lustig macht: dass das Buch zu dick ist, dass sie nicht knackig formulieren kann, dass sie mehr üben soll. Verena Roßbacher, die mit ihrem Debüt Verlangen nach Drachen Erfolge feierte, wehrt sich mit den Argumenten, dass alles nun einmal so geschehen sei und sie auch nichts dafür könne, wenn die drei Männer so viel redeten.

Schwätzen und schlachten ist ein wahnsinniges Buch, es ist überladen, anstrengend, verrückt, kurios, äußerst elegant geschrieben und dermaßen ungewöhnlich, dass ich – man hat es an der Inhaltsangabe oben gemerkt – nicht einmal erzählen könnte, worum es darin eigentlich geht. Weil ich tatsächlich nicht die geringste Ahnung habe. Dabei hab ich den Roman gelesen. Aber er ist ein Puzzle, ein einziges Ablenkungsmanöver, ein Wortschwall, gleichzeitig ernst und geheimnisvoll: „Worte sind harmlos, dachten sie, dabei kann alles Gedachte, Gesagt, getan werden, es kann jedes Wort so ungeheuer fleischlich werden und gefährlich.“
Wer Schwätzen und schlachten lesen soll? Wer viel Zeit und Geduld hat – es lohnt sich!

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Schwätzen und schlachten von Verena Roßbacher ist erschienen bei Kiepenheuer & Witsch (ISBN 978-3-462-04615-1, 640 Seiten, 24,99 Euro).

Noch mehr Futter:
– Sehr angetan vom Roman ist der Rezensent auf zeit.de, aber auch er kann den Inhalt nicht nacherzählen.
– Hier könnt ihr Verena Roßbacher beim Vorlesen zuhören.
– Ein Porträt der Autorin gibt es auf welt.de zu lesen.
Dieses Interview hat Verena Roßbacher in einem Berliner Café absolviert, das auch im Buch vorkommt.
– Hier könnt ihr den Roman bei ocelot.de bestellen.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Barlow„Leg einen Kurs fest, so wie die Sonne ihre Bahn über das Meer wirft, und folge ihm dann – oder geh unter und ersauf“

Die handelnden Personen
Zoja: eine Hexe, jung und schön seit vielen Jahrzehnten
Elga: ebenfalls eine Hexe, alt und rachsüchtig, die seit Ewigkeiten mit Zoja raubend und mordend durch die Lande zieht
Will: ein junger Amerikaner, der für eine Werbeagentur arbeitet und der CIA in die Quere kommt
Oliver: ein undurchsichtiger Spion, der Will in die Scheiße reitet
Vidot: ein Polizeikommissar, der in einen Floh verwandelt wird

Der Ort
Paris

Die Geschichte
Zoja und Elga sind Hexen, sie stammen aus Russland und sind nun, Ende der 1950er-Jahre, nach Jahrzehnten des Herumziehens, in Paris gelandet – zumindest vorübergehend. Immer schon bestand ihre Strategie darin, sich an Männer zu hängen – Heerführer, Soldaten, Herzoge, Kaiser, später Geschäftsmänner – und sich von ihnen aushalten zu lassen, bis es Zeit war, zu gehen. Dann mussten die Männer ihr Leben lassen, durch Gift, gezischte Verwünschungen, geflüsterte Zaubersprüche. Doch als Zoja ihren aktuellen Liebhaber beseitigt, geht etwas schief, sie zieht die Aufmerksamkeit der Polizei auf sich und den Hass von Elga. Also muss Zoja sich verstecken. Genau wie der Amerikaner Will, der zwischen die Fronten der russischen und der amerikanischen Spione gerät. Schuld daran ist Oliver, von dem Will nicht weiß, ob er Freund ist oder Feind. Als Zoja und Will aufeinandertreffen, benutzt Zoja ihre Zauberkraft, um Will an sich zu binden und ihn als Schutzschild zu benutzen. Doch zum ersten Mal spürt sie etwas anderes als den Wunsch, beschützt zu werden und zu überleben: Sie verliebt sich. Und das ist in diesem Fall ebenso gefährlich wie eine mordlustige Hexe, bewaffnete Spione, ein schlauer Floh, pharmazeutische Experimente und uralte Kräfte, denen niemand gewachsen ist …

Die Konsequenzen
Baba Jaga von Toby Barlow ist verrückt. Originell. Sehr schräg. Absolut unglaublich. Wahnsinnig anstrengend. Und irgendwie nicht mit normalem Maßstab zu messen. Weil das Buch geradezu übergeht vor kreativen Ideen, womit der Autor wohl beweist, dass er als Creative Director einer Werbeagentur in Detroit den richtigen Job gewählt hat. Als ich zu lesen beginne, merke ich schnell, dass ich die Realität, wie ich sie kenne, vergessen muss. Ich lese ja kein Fantasy, deshalb sind zaubernde Frauen und in Flöhe oder Ratten verwandelte Männer zunächst eine Neuheit für mich. Ich glotze also mit offenem Mund wie ein staunendes Kind, dem das Eis in der Hand schmilzt, auf die tanzenden Bilder vor mir. Und sie tanzen wirklich wild. Der Autor haut mir die Zaubersprüche, Verfolgungsjagden, Sexszenen und Schusswechsel nur so um die Ohren. Und ich finde es toll! Mit einem Manko: Sprachlich ist mir der Roman stellenweise zu platt, da wäre an den Formulierungen noch zu polieren gewesen. Auch die Hexenlieder hätten nicht unbedingt sein müssen. Dafür punktet Baba Jaga mit sprühender, funkelnder Fantasie. Wie Polizeikommissar Vidot sich frohen Mutes seinem Schicksal, plötzlich ein Floh zu sein, ergibt, das Geheimnis seiner Frau entdeckt und beim Beißen in diverse Kopfhäute und Tierfelle in einen orgiastischen Blutrausch verfällt, ist einfach nur herrlich. Toby Barlow hat sich für die Charakterisierung seiner Hexen an alten Legenden bedient und beschreibt ihre Zaubereien sehr detailreich, interessant und amüsant. Er gibt Zoja und Elga ihre Zauberkünste als Waffe gegen die Dominanz der Männer in die Hände.
Mit dem Ende der Geschichte bin ich absolut nicht einverstanden, muss es aber freilich akzeptieren. Generell muss man das Buch sehr aufmerksam lesen, um den Ereignissen folgen zu können. Weil alles so durchgeknallt ist. Weil es ein absoluter Höllenritt ist, ein Drogentrip, ein Alptraum, eine Liebesgeschichte, eine absurde Story, die merkwürdigerweise doch Sinn ergibt. Und gerade diese Absurdität ist für mich eine angenehme Abwechslung zu meiner üblichen schwermütigen Lektüre. Insofern: Lasst euch verführen, erschrecken, verzaubern – so etwas habt ihr garantiert noch nie erlebt!

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Baba Jaga von Toby Barlow ist erschienen im neuen Atlantik Verlag bei Hoffmann und Campe (ISBN 978-3-455-60000-1, 544 Seiten, 19,99 Euro).

Noch mehr Futter:
– „Ich lese eigentlich kaum phantastische Romane, als Genre interessiert mich das nicht so sehr. Aber ich mag es trotzdem, selbst darüber zu schreiben“, sagt Toby Barlow im Interview.
– „Nichtsdestotrotz ist dem Mann aus Detroit ein literarischer Parforceritt gelungen, der neben gelegentlicher Übersättigung auch noch eine erstaunlich üppige Menge Unterhaltung und schrägen Humor bietet“, sagt Sophie von Literaturen.
– Hier könnt ihr Toby Barlow auf Twitter folgen.
– Und das Buch solltet ihr bei ocelot.de bestellen.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Shafak„Wenn sie erst wussten, dass man ein Herz aus Glas hatte, brachen sie es auch“
Pembe will fort, Jamila nicht. Die Zwillingsschwestern, deren Namen Genug Schönheit und Rosarotes Schicksal bedeuten, wachsen in Kurdistan auf, in einem abgelegenen Dorf, mit Eltern, die sich von Allah gestraft fühlen, weil sie nur Töchter bekommen haben und keinen einzigen Sohn. Als sie 19 ist, wird Pembe Mutter von Iksander und ist verheiratet mit Adem, dem Mann, der Jamila liebt. Er bringt sie tatsächlich fort, sie wandern aus nach London, wo Pembe in einem Friseursalon arbeitet und sich um ihre mittlerweile drei Kinder kümmert. Die Ehe ist unglücklich, Adem verfällt dem Glücksspiel und der schönen Roxana. Pembe lässt ihn ziehen, und schon bald erobert ein fremder Mann den freien Platz in ihrem Herzen. Doch Pembe hat Angst. Zu Recht – denn bald geschieht etwas Furchtbares, das die ganze Familie für immer in den Abgrund reißt …

Elif Shafak, die in Istanbul und London lebt, hat bereits zwölf Romane veröffentlicht, die in der Türkei zum Teil umstritten sind. In Ehre erzählt sie eine vielschichtige, farbenprächtige, Jahre umspannende Geschichte, die in Kurdistan und England spielt. Aberglaube und kurdische Sitten, Ehrenmorde, die Einsamkeit des Emigrantenlebens und die Liebe – dies sind die großen Themen, um die dieses Buch sich dreht. Dank ihrer Wurzeln weiß die Autorin, wovon sie schreibt, sie muss nichts kunstvoll erklären, die kulturellen Hintergründe fließen von selbst in die Handlung ein, sind begleitend und ausschlaggebend zugleich. Um die Protagonistinnen Pembe und Jamila gruppieren sich mehrere Figuren, die in eigenen Erzählperspektiven ebenfalls zu Wort kommen: Adem, Iksander, seine Geschwister. Die Geschichte wird nicht chronologisch erzählt, im Gegenteil, Elif Shafak springt zwischen den Zeiten hin und her, lässt die Schwestern Briefe schreiben, nimmt Ereignisse vorweg und liefert die Erklärungen dazu später. Das ist schlau gemacht, verrät einiges, aber nicht zu viel, und hält die Spannung aufrecht.

Elif Shafak beleuchtet eine Familie mit drei Kindern, deren Eltern nie in Liebe verbunden waren, die in England aufwachsen, aber ihre Heimat im Herzen tragen, ohne zu wissen, was das bedeutet, und die rasend schnell erwachsen werden. Ihre Figuren sind tragische Gestalten, liebenswert in ihrer Versehrtheit, hilflos, gebrandmarkt durch eine große Schuld. Es ist der Autorin ausgezeichnet gelungen, das Verschiedene an den einzelnen Charakteren herauszuarbeiten: das Weiche, Kluge an Jamila, der Heilerin, Pembes gut verborgene Verzweiflung, Iksanders Hitzköpfigkeit, die kindliche Hingabe seines Bruders Yunus, die Lahmarschigkeit von Adem. Ich mag die Sprache, die Poesie, die Verflechtung der Kulturen, die Darstellung der Figuren, die Erzählweise. Ein wenig zu klischeehaft sind mir die Ereignisse zum Teil, und das Ende lässt mich doch recht verwundert zurück. Aber Ehre ist ein lesenswertes Buch, ein kraftvolles, trauriges, gut geschriebenes Buch, in dem das Schicksal gebeten wird, einzutreten – was völliges Chaos auslöst.

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Ehre von Elif Shafak ist erschienen im Kein & Aber Verlag (ISBN 978-3-0369-5676-3, 528 Seiten, 24,90 Euro).

Noch mehr Futter:
– „Shafaks fiktive Chronik eines Ehrenmordes, sehr fein übersetzt, kommt der europäischen Realität eindringlich und ungemütlich nahe“, schreibt spiegel.de.
– In der FAZ könnt ihr ein Interview mit Elif Shafak lesen.
– Sehr beeindruckend fand Die Leserin das Buch.
– Hier könnt ihr das Buch bei ocelot.de bestellen.

Gut und sättigend: 3 Sterne

OlmiEine Geschichte vom Scheitern
„Es ist die Liebe, die die Maisonettewohnung nicht verlässt, und manchmal ähnelt ihnen das Zimmer, ein Durchgangszimmer, ein bisschen zusammengestückelt, eine fröhliche Unordnung, die Spuren einer glücklichen Liebe.“ Allerdings ist es eine Liebe, die nicht sein darf, die nur kurz aufflackert und verlischt: Suzanne, die Klavierstimmerin, und Serge, der Luxusmakler, sind verheiratet. Allerdings nicht miteinander. Serges Frau Lucie ist viel jünger als er, wunderschön, Mutter seiner zwei kleinen Kinder. Suzannes Mann Antoine ist lieb und verlässlich. Aber dann sind da all die verspielten Möglichkeiten: Suzanne hätte Pianistin werden können. Sie hätte Kinder haben können. Serge hätte eine schöne Kindheit und eine Mutter haben können. Für eine Weile leben sie diese Träume, in einem Paralleluniversum, sie schlafen in einer leer stehenden Wohnung miteinander, um all diese Möglichkeiten zu spüren. Ein verbindendes Element ist dabei auch das Klavier als ein Musikinstrument, mit dem Suzannes arbeitet und das Serges Kindheit prägte. Doch während Suzanne den Mut hat, ihre Konsequenzen aus dieser Liebe zu ziehen, verstrickt sich Serge komplett in seiner eigenen Vergangenheit und durchlebt erneut das Furchtbare, das geschehen ist, als er acht Jahre alt war. Was ihnen bleibt, ist der Moment, die Sehnsucht, die Erinnerung: „Bereits an jenem Tag war ich Serge begegnet. Schon seltsam, wie ein Nichts ausreicht, damit ein Leben verstimmt wird, damit unser so einzigartiges, so kostbares Dasein seine Harmonie und seinen Wert einbüßt. Als bestünde es aus Luft und nichts anderem. In diesem Haus lebte ein Mann, von dem ich nichts wusste, nichts kannte, außer der Frau und dem Klavier, ein Mann, dessen Rasierwasser zu süß, dessen Anzug zu dunkel war, und bevor wir uns begegneten, wussten wir es nicht, aber wir hatten beide nichts anderes getan, als auf schmalen Holzbrettern über den Sumpf zu laufen.“

Véronique Olmi ist eine der bekanntesten Roman- und Theaterautorinnen Frankreichs. Ihr neuestes Buch ist die Geschichte einer Affäre, die Geschichte einer kurzen Liebe, die sehr nüchtern betrachtet wird. Protagonistin Suzanne bekommt die Ich-Perspektive, das Hauptaugenmerk liegt jedoch auf Serge. Er ist es, der alles initiiert, nachdem er Suzanne in einer Bar hat tanzen sehen. Er findet sie nicht attraktiv, sie ist ihm zu alt und zu gewöhnlich. Trotzdem wartet er den ganzen Tag vor ihrem Haus, küsst sie unvermittelt, schläft mit ihr. Von da an treffen sie sich für Sex, versprechen einander nichts, haben immer nur ein bisschen gestohlene Zeit. In beiden löst die Affäre völlig unterschiedliche Dinge aus: Suzanne versinkt in Melancholie, sie sieht die verpassten Chancen in ihrem Leben, das ihr plötzlich nicht mehr genügt. Serge dagegen taucht ein in seine traumatische Vergangenheit, weil er in Suzanne endlich jemanden gefunden hat, bei dem er diese belastende alte Geschichte abladen kann. Er ist egozentrisch, blind für Suzannes Liebe, blind für Lucies Gefühle. Und diese Last, die er mit sich trägt, die mit dem Tod seiner Mutter und der Grausamkeit seines Vaters zu tun hat, ist mir viel zu dramatisch. Da tut sich ein Abgrund auf, der mir unpassend tief erscheint, eine inhaltliche Diskrepanz zwischen den beiden Handlungssträngen, die nicht vereinbar sind, ein seltsames Hin und Her im Roman, der keine Balance findet. Das gilt allerdings nur für den Inhalt, sprachlich ist das Buch absolut ausgewogen, fein abgestimmt, poetisch.

Das Glück, wie es hätte sein können ist – der Titel verrät es schon – ein unheimlich deprimierendes Buch, traurig, melancholisch. Denn das Glück existiert nur im Konjunktiv und somit gar nicht – allerdings schimmert es stellenweise schwach durch, was wohl am schlimmsten ist. Das zwischen Serge und Suzanne ist kein Glück, ich möchte es so, wie Véronique Olmi es darstellt, nicht einmal Liebe nennen, mehr ein Aufbegehren gegen den festgefahrenen Alltag, einen weiteren Beweis, dass der Mensch nicht für die Monogamie geschaffen ist. Nur versucht vor allem Suzanne, unter den Deckmantel der Liebe zu schlüpfen, obwohl es dort für beide keinen Platz gibt. Die Geschichte wird dominiert von Unehrlichkeit und Schweigen, dem Wunsch nach Dingen, die nicht zu haben sind, und dem Gefühl des Scheiterns. Dies ist kein tiefschwarzes Buch, aber ein sehr graues, mutloses, erschreckendes, aus dem man ganz klar die Lehre ziehen kann, die Chancen, die das Leben gibt, zu nutzen.

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Das Glück, wie es hätte sein können von Véronique Olmi ist erschienen im Antje Kunstmann Verlag (ISBN ISBN 978-3-88897-927-9, 223 Seiten, 19,95 Euro).

Noch mehr Futter:
– Eine Rezension auf spiegel.de beschreibt das Buch als eindringlich-düster, intim, aber auch dick aufgetragen.
– „Im zehnten Roman von Véronique Olmi folgt auf eine Urkatastrophe das nicht gelingende Leben“, schreibt die Frankfurter Rundschau.
– Atemberaubend elegant und betörend sensibel nennt der Durchleser diesen Roman.
– Hier könnt ihr das Buch bei ocelot.de bestellen.

Menü des Monats

MenüJuli

In Österreich sagt man: Aufg’wärmt schmeckt nur Gulasch guad. Damit ist gemeint, dass man nicht nochmal eine Beziehung mit einem Ex anfangen soll. Stimmt aber nicht. Das mit dem aufg’wärmt jedenfalls. Das gilt nämlich auch für Bücher! Die sollten nicht in Vergessenheit geraten, auch wenn sie vielleicht nicht mehr brandaktuell sind. Deshalb gibt’s ab sofort im Bücherwurmloch jeden Monat ein spezielles Menü: Kredenzt wird Altbekanntes, Gutes, Schönes, Schmackhaftes – zum Wiederentdecken, Gustieren und Probieren.

Zum Auftakt: ein paar Geschichterln als Hors d’oeuvre.
Miroslav Penkow: Wenn Giraffen fliegen

Als Hauptspeise: was Deftiges.
Christos Tsiolkas: Nur eine Ohrfeige

Und zum Abschluss ein bisschen romantisches Licht.
Jón Kalman Stefánsson: Das Licht auf den Bergen

Guten Appetit wünscht euch
Mariki

Für Gourmets: 5 Sterne

SonnenbergWenn einer fehlt, dann fehlt er auf der ganzen Welt
Eine Familie: Elise, Chris, Leah und Sophie. Elise, die der Erinnerung an die sexuellen Übergriffe ihres Großvaters entkommen will und sich einen Mann aussucht, der die ganze Welt bereist, um so weit wie möglich wegzukommen. Chris, der Schulsportler, der beruflich erfolgreich ist, ein stolzer, zurückhaltender Mann. Leah, die in Deutschland geboren wird, in London, Amerika, China und Singapur aufwächst, voller Neid auf die kleine Schwester davor und voll unendlicher Trauer danach. Denn Sophie stirbt im Alter von 13 Jahren überraschend. Die anderen drei Familienmitglieder versuchen in Folge, mit ihrem Fehlen zurechtzukommen – an verschiedenen Orten, mit einer Therapie, mit all ihrer Kraft. Doch auch nach vielen Jahren ist ihnen klar, dass es ihnen niemals gelingen wird.

Brittani Sonnenbergs Buch Heimflug ist unglaublich kraftvoll, emotional und intensiv. Die 1981 in Hamburg geborene Autorin mit amerikanischen Wurzeln hat wie ihre Figuren in Asien, Europa und den USA gelebt und unterrichtet momentan an der Universität in Hongkong. Vermutlich kennt sie sich deshalb so gut aus mit dem Gefühl der Heimatlosigkeit und mit dem Vagabundendasein. Gleich zu Beginn fesselt sie mich mit ihrer trittsicheren, stimmigen Sprache und der einzigartigen Perspektive: Im ersten Kapitel erzählt ein Haus. Die Perspektiven wechseln oft, von Ich-Einblicken über fast theaterstückartige Szenen bis hin zu klassisch auktorialen Teilen, und das macht den Roman sehr facettenreich, wenn auch ein wenig unrund. Aber da ich mich ja gerade mit Kurzgeschichten anfreunde, hat mich das nicht gestört. Heimflug ist freilich keine Short Story, sondern ein in sich geschlossener Roman, zusammengestellt aus Fragmenten, aus Flicken, aus Scherben, wodurch sich der Inhalt im Stil spiegelt – und im Gesamtbild ergibt dies das Porträt einer Familie von Expats, die durch den Tod eines Kindes zerbricht und nur noch lose zusammengehalten wird. Das ist in erster Linie beschissen traurig. Die einzelnen Figuren beleuchtet Brittani Sonnenberg von mehreren Seiten, lässt sie selbst zu Wort kommen und zeigt, wie sie durch die Augen der anderen erscheinen. Sie sind verletzt und verletzlich, voll widersprüchlicher Gefühle und dabei vor allem eins: sehr menschlich.

Heimflug ist ein Buch, das funkelt. Es ist liebevoll, zärtlich, brutal und abgeklärt, es duftet nach exotischen Pflanzen, schwitzt vor Hitze, fühlt sich manchmal fremd und manchmal vertraut an. Hier ist eine Autorin am Werk, die es glänzend versteht, das Fremde einzufangen und zu beschreiben, und die genau weiß, was sie mit ihrer Geschichte sagen will. Es geht um die Suche nach der Möglichkeit, sich heimisch zu fühlen, wenn man keine Heimat hat, und um die Frage, was einen auffangen kann, wenn es keinen Boden unter den Füßen gibt. Der Roman hat keinen durchgängigen Erzählstil, aber einen gut erkennbaren roten Faden. Und auch wenn er zum Ende hin ein bisschen abflaut und an Kraft verliert, habe ich jedes Kapitel, jede Seite sehr genossen, ich war emotional beteiligt an der Geschichte und begeistert von der Sprache. Ein Buch, das ich euch ans Herz legen will, denn dort gehört es hin.

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Heimflug von Brittani Sonnenberg ist erschienen im Arche Verlag (ISBN 978-3-7160-2709-7, 336 Seiten, 19,95 Euro).

Was ihr tun könnt:
Brittani Sonnenbergs Website besuchen.
Der Autorin auf Twitter folgen.
Eine Besprechung auf zeit.de lesen.
Erfahren, was Mara von Buzzaldrins Bücher über das Buch denkt.
Euch eine Leseprobe des Romans zu Gemüte führen.
Das Buch bei ocelot.de bestellen.

Gut und sättigend: 3 Sterne

WeissUnd dann einfach ein neues Leben anfangen
Maren hatte es ganz schön gut: Erfolg als Architektin, eine funktionierende Ehe, eine gesunde, hübsche Tochter. Doch eines Abends verschwand Maren ohne ein Wort, und seither zerbricht ihr Mann Berthold sich den Kopf: Wurde sie entführt, vergewaltigt, getötet? Oder hat sie ihn einfach verlassen? Marens Geschichte interessiert einen Journalisten, der eigentlich Filmkritiken schreibt, derart, dass er nach ihr sucht. Und er findet sie – auf Tunesien. Statt ihren Mann und die Polizei zu informieren, bucht er einen Flug. Etwas reizt ihn an dieser Frau und an ihrer Geschichte, und es reizt ihn so sehr, dass er seine Frau in Bezug auf sein Reiseziel anlügt. Doch was glaubt er, was ihn erwartet? Eine Anleitung, wie man das macht, sein altes Leben zurückzulassen? Einen Freibrief, es selbst zu tun? Das, was er bekommt, deckt sich auf jeden Fall nicht mit dem, was er wollte.

Thomas Weiss, der als freier Schriftsteller in Berlin lebt, hat bereits mehrere hochgelobte Romane vorgelegt. In Flüchtige Bekannte entwirft er ein Szenario, das so bekannt wie bedrückend ist: Man hat sich festgefahren im eigenen Leben, steckt im Schlamm der Bequemlichkeit, würde am liebsten nochmal von vorn anfangen, die Last der Familie abwerfen und einfach abhauen. Maren tut genau das. Ihre Geschichte aber ist anfangs ein Geheimnis, ein Rätsel, das der Ich-Erzähler zu entschlüsseln versucht. Er kommt Maren sehr schnell auf die Schliche, und als er sie gefunden hat, steigt auch sie in die Erzählung ein, berichtet aus ihrer Sicht, stellt ihre Rechtfertigungen sehr nüchtern dar. Kann man ein Handeln wie ihres überhaupt rechtfertigen? Und ist es nachzuvollziehen, wie selbstsüchtig der Journalist sich verhält? Was die beiden – jeder für sich – tun, ist sicher moralisch fragwürdig. Und zutiefst menschlich.

Flüchtige Bekannte dreht sich um ein Thema, das uns alle interessiert und immer wieder berührt: Haben wir uns richtig entschieden? Ist das das beste aller Leben? Oder sind wir irgendwo falsch abgebogen und sollten nochmal von vorn beginnen, ehe es zu spät ist? Diese Ausgangssituation hat mich dazu bewogen, das Buch zu lesen. Von der Umsetzung bin ich allerdings nicht zur Gänze überzeugt. Maren, Dreh- und Angelpunkt der Geschichte, bleibt kühl und nicht greifbar, gibt sich in ihren Darstellungen sehr rational. Das neue Leben, das Thomas Weiss ihr angezogen hat, ist derart farblos und ebenfalls banal, dass ich nicht glauben mag, dass sie es wählen würde. Mann und Kind ins Unglück stürzen – für DAS?! Der Journalist dagegen ist ein egozentrischer, schmieriger, eingebildeter Typ, der sich über den Bau des Eigenheims echauffiert und – ganz Klischee – von der Unabhängigkeit träumt, obwohl er seine Frau liebt. Wäre er wirklich wieder Single, würde er schnell das große Heulen kriegen, wie es auch der Fall ist, als die Gattin seine Lügen durchschaut. Was bleibt zu sagen? Dass dieser Roman gut geschrieben ist, ich mir aber mehr erwartet habe von dieser vielversprechenden Verheißung, dass da jemand neu anfängt. besonders das Ende lässt mich ratlos und enttäuscht zurück. Aber so ist das vielleicht einfach, wenn man sich ein neues Leben sucht: Es ist dann letztlich auch nicht besser als das alte.

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Flüchtige Bekannte von Thomas Weiss ist erschienen im Berlin Verlag (ISBN 978-3-8270-1211-1, 192 Seiten, 16,99 Euro).

Was ihr tun könnt:
Die Rezension von Wortgalerie lesen.
In der Besprechung von buecherrezension.com mehr über den Roman erfahren.
Das Buch bei ocelot.de bestellen.