Lieblingsfutter

andy50a_ohneAndreas Fallwickl, Jahrgang 1963, Unternehmer in Adnet bei Salzburg

Schöne neue Welt von Aldous Huxley ist mein Lieblingsbuch, weil er schon 1932 die Zeit von heute so genial beschrieben hat und es zeigt, wie verrückt die Welt geworden ist.

Empfehlen möchte ich das Buch jedem Visionär.

Wenn ich lese, dann vertreibe ich mir die Zeit bis zum nächsten Projekt oder, wer weiß, bis zum Sterben. Als reinen Zeitvertreib lese ich  vorwiegend Krimis.

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Schöne neue Welt von Aldous Huxley ist 1932 erschienen und liegt momentan in der 66. Auflage bei Fischer Taschenbuch (ISBN 978-3596200269, 256 Seiten, 7,95 Euro) vor.

Und was ist dein Lieblingsfutter? Wer mitmachen möchte, schickt seine Antworten auf die Fragen oben an office_at_mareikefallwickl.at.

Gut und sättigend: 3 Sterne

MeynDie geheimnisvolle Kraft der Anziehung
Der Bildhauer Peter, der einst in Hamburg studiert hat, aber seit 20 Jahren in Frankreich lebt, kehrt nach Deutschland zurück – wegen eines Schecks in Höhe von sechs Millionen Euro, den ihm seine Ex-Freundin Anelis geschickt hat. Sie leitet inzwischen eine Kunstgalerie. Mit ihr und seinem Freund Theo war Peter eng verbunden, bevor er das Dreiecksverhältnis nicht mehr ertrug und nach Frankreich flüchtete. Dort führt er mittlerweile mit einem Kompagnon ein sehr erfolgreiches Restaurant, in dem es nur ein Gericht gibt. In Hamburg fällt ihm in erster Linie auf, wie sehr sich die Stadt verändert hat – genau wie seine früheren Freunde Mark, Julia und Swantje. Peter sieht sich alles an, taucht in die Vergangenheit ein, zieht Vergleiche – und schließt endgültig ab.

Der deutsche Autor Boris Meyn, der als Verfasser historischer Krimis zu Ruhm gelangte, hat mit Der Kuss eine Geschichte über einen Egozentriker geschrieben, der einen Blick auf das Leben wirft, das jene führen, die ihm zwei Jahrzehnte zuvor zu Füßen lagen. Boris Meyn bedient sich dazu einer reichlich exaltierten, gestelzten Sprache, die sich eher ruckartig liest, weil sie so arg darauf bedacht ist, Wortwiederholungen zu vermeiden und rundum schön zu sein. Trotzdem ist der Roman unterhaltsam und interessant, mit netten Wendungen und einem absolut vorhersehbaren, aber sehr stimmigen Ende. Ich hab ihn gern und schnell gelesen und mich über die eingebildeten Schnösel, zu denen die einstigen vermeintlichen Revoluzzer geworden sind, amüsiert.

Das Problem, das ich mit Der Kuss habe, ist ein klassisches Klappentext-Problem. U2 und U4 attestieren dem Protagonisten eine geheimnisvolle Gabe, die Fähigkeit, seine Mitmenschen zu bezaubern. Das klingt für mich nach Magie, nach einer unwiderstehlichen Anziehungskraft, nach vielen Überraschungen und surrealen Ereignissen. Tatsache aber ist: Peter wird im Zug von einer Frau angesprochen. Ein Mann verliebte sich einst in ihn. Zwei Frauen auch. Manch eine wollte mit ihm zusammenziehen und Kinder bekommen. Was er als ungewöhnliche Vereinnahmung bezeichnet, die nur ihm geschieht und sonst niemandem, wirkt auf mich ganz normal. Er ist ein Mensch mit Charisma – mehr nicht. Seine Gabe existiert nur in seiner arroganten Fantasie. Zudem heißt es im Umschlagtext, Peter merke, „dass es ein verhängnisvoller Fehler war, aus der Stadt zu fliehen“. Das macht neugierig. Stimmt aber überhaupt nicht. Denn im Buch steht: „Ich konnte nur ahnen, was sich hier abgespielt hatte, und im Nachhinein fühlte ich mich in dem Entschluss bestätigt, dem Ganzen rechtzeitig den Rücken gekehrt zu haben.“ So viel also zu den interessanten Verhängnissen – es gibt sie nicht. Aufgrund dessen waren meine Erwartungen an die Lektüre völlig falsch. Das ist schade, aber nicht unbedingt weiter schlimm – das Buch ist trotzdem gut. Wenn auch nicht so herausragend, wie ich gehofft hatte.

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Der Kuss von Boris Meyn ist erschienen im Osburg Verlag (ISBN 9783955100544, 266 Seiten, 19,99 Euro).

Noch mehr Futter:
– Hier könnt ihr dem Autor beim Lesen zuhören.
– „Die innere Zerrissenheit des Peter Baumann, die er auch nach knapp 30 Jahren Abwesenheit aus Hamburg hier jetzt wieder spürt, ist sehr gut beschrieben und nachzuempfinden“, heißt es auf sabstern.de.
– Auf lovelybooks.de gibt es eine Leserunde zum Buch.
– Hier könnt ihr den Roman auf ocelot.de bestellen.

Gut und sättigend: 3 Sterne

BeckerDie Geschichte einer Mörderin
Der Vater ist fast 90 Jahre alt. Jeden Samstag besucht die Tochter ihn, wäscht ihn, geht mit ihm Eis essen, plaudert mit ihm. Die Mutter ist bereits verstorben, der Kommunismus den Bach runtergegangen, die Tage sind gezählt. Immer öfter schaut der Vater zurück, und dann beginnt er, der Tochter von seinem größten Fall zu erzählen: Er war als Polizist zuständig für die Eisenbahn, wo selten etwas Aufregendes geschah. Bis eines Tages der Kopf eines Mannes in einer Zugtoilette gefunden wurde. Die Mörderin war schnell gefunden: Es war die Ehefrau. Sie hat ihn getötet, zerstückelt und verbrannt. Der Vater gab sich aber nicht damit zufrieden, bohrte in der Vergangenheit der Mörderin, deckte ein Verbrechen auf, das sie in Tschechien begangen hatte. Von seiner eigenen Frau, die unbedingt zur Chefredakteurin der Zeitschrift, bei der sie arbeitete, aufsteigen wollte, entfernte er sich während der Ermittlungen immer mehr. Die Tochter, damals noch ein Teenager, sah das alles mit an, beschäftigte sich mit den grausigen Morddetails und verlor über der Ehekrise der Eltern die Fassung. Und jetzt, all die Jahre später, will der Vater, dass die Tochter, die Schriftstellerin ist, ein Buch über seinen größten Fall schreibt.

Zdenka Becker ist in Bratislava aufgewachsen, lebt aber in Österreich und schreibt auf Deutsch. Ihre Bücher sind mehrfach ausgezeichnet. In Der größte Fall meines Vaters erzählt sie vom Leben in einem kommunistischen Land genauso wie von einem aufsehenerregenden Mordfall. Sie lässt ihre beiden Protagonisten – Vater und Tochter – die inzwischen in ihrem Lebensabend angekommen sind, Zeitreisen unternehmen und die polizeilichen Ermittlungen von damals wieder aufrollen. Das ist gut zu lesen, kurzweilig, unterhaltsam, aber spannend ist es nicht. Die Mörderin ist gleich die Erste, die befragt wird, und es ist sofort klar, was sie getan hat und warum. Krimi ist das Buch deshalb keiner. Eher eine Art Sozialstudie, Porträt einer Mörderin, Porträt einer Familie zu Zeiten des Kommunismus. Ich habe nichts explizit an diesem Roman auszusetzen, aber auch nichts hervorzuheben. Eleganter Stil, flüssig erzählt – für mich jedoch kein Highlight.

Der größte Fall meines Vaters ist erschienen im Deuticke Verlag (ISBN 978-3-552-06207-8, 224 Seiten, 18,90 Euro).

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Noch mehr Futter:
Hier könnt ihr der Autorin beim Vorlesen zuschauen und zuhören.
– „Nach Becker kann man süchtig werden! Der Lesegenuss ist vollkommen“, findet Matthias Mander.
– „Dieses Buch habe ich in die Liste meiner 20 Lieblingsbücher im Frühjahr 2013 auf­genommen“, heißt es auf buecherrezensionen.org, wo der Roman fünf Sterne bekommen hat.
– Und hier könnt ihr das Buch bei ocelot.de bestellen.

Gut und sättigend: 3 Sterne

Morley„Niemand ist so dankbar wie der Mensch, dem man genau das Buch gegeben hat, das seine Seele brauchte, obgleich er es nicht wusste“

Dieses Buch ist …

… sehr antiquiert in seiner Ausdrucksweise

… höchst amüsant

… total naiv

… irgendwie absurd

… inhaltlich völlig verrückt

… aus dem Jahr 1919

… wirklich lesenswert

… ein fantasievoller Reigen aus Emotion und

… die Geschichte von Roger Mifflin, der in Brooklyn alte Bücher verkauft, seinem Hund Bock, der schönen Titania Chapman und dem jungen Werber Audrey Gilbert

… voller Bücher, Bücher, Bücher

… eine Liebesgeschichte (zwischen Mann und Frau)

… eine Liebeserklärung ( an das Lesen)

… eine Sammlung von wunderbaren Zitaten über die Wichtigkeit von Lektüre

… sehr unterhaltsam

… zwischendrin anstrengend, weil es weit ausholt und abschweift

… ein kleiner Schatz

… vor allem lesenswert, wenn man eine Vorliebe für Bücher und Buchhandlungen hat

… einfach reizend

… eine Story über ein Antiquariat, eine junge Frau und ein geplantes Attentat

… unbedingt eine Empfehlung wert!

BannerDas Haus der vergessenen Bücher von Christopher Morley ist erschienen im Atlantik Verlag (ISBN 978-3-455-60012-4, 256 Seiten, 18 Euro).

Noch mehr Futter:
– „Morleys harmonischer Sprachduktus wird von wohl formulierten Sätzen und eleganten Metaphern bestimmt, seine Worte schmiegen sich gerade zu mit Wonne an das Papier und man kann gar nicht anders, als mit strahlenden Augen zu lesen“, heißt es in der Buechernische.
– „Dieser Roman wurde kurz nach dem Ende des Ersten Weltkriegs geschrieben. Damals hatte es sicher noch eine ganz andere Brisanz als heute, aber selbst jetzt, knapp hundert Jahre später, kann man sich noch an den wundervollen Aussagen erfreuen, die durch ihre Zeitlosigkeit immer aktuell bleiben werden“, schwärmt irveliest.
– Eine virtuelle Leserunde zum Buch hat unter anderen die Bibliophilin ins Leben gerufen.
– Hier könnt ihr den Roman bei ocelot.de bestellen.

Gut und sättigend: 3 Sterne

WolitzerWie der Zufall so will

Die handelnden Personen:
Julie Jacobsen, ein unscheinbares Mädchen aus der Provinz, später Psychotherapeutin und Mutter einer Tochter
Ash Goodman, eine wunderschöne junge Frau aus reichem Haus, die als Erwachsene feministische Theaterstücke inszeniert und zwei Kinder bekommt
Wolf Goodman, Ashs Bruder, in den Julie verknallt ist und der eine Straftat begeht
Ethan Figman, ein hässlicher Bursche, verliebt in Julie, der mit seiner Zeichentrickserie Figland wahnsinnig erfolgreich wird

Der Ort:
Ein Sommercamp an der Ostküste, wo Julie in den elitären Kreis der Freunde aufgenommen wird, zu dem auch Jonah und Cathy gehören: Sie nennen sich Die Interessanten. Später leben alle Beteiligten in New York.

Der Inhalt:
Jedes Jahr trifft die Weihnachtspost von Ash und Ethan ein – und jedes Jahr frisst Julie, die mit beiden seit dem Sommercamp viele Jahrzehnte zuvor befreundet ist, der Neid. Weil sie und ihr Mann Dennis nicht so sehr auf der Sonnenseite des Lebens stehen. Es war nur ein Zufall, der Julie mit 15 Jahren in das Kreativcamp und in den neuen Freundeskreis gebracht und der ihr ganzes Leben komplett verändert hat. Sie wird sich für immer an der schönen Ash messen und mit sich selbst unzufrieden sein, sich für weniger interessant halten. Dabei verteilt das Leben seine Schicksalsschläge durchaus gerecht: Ashs Sohn ist autistisch, ihr Bruder versteckt sich im Ausland. Julies Mann ist depressiv. Und wirklich glücklich ist eigentlich niemand.

Meg Wolitzer hat mit Die Interessanten einen recht umfangreichen Roman geschrieben, der mich in einen Zwiespalt geschubst hat. Denn während ich mich auf den ersten 100 Seiten mit dem Weiterlesen ziemlich quäle, gibt es dann einige Passagen, in denen die Handlung vorangeht und die sehr spannend sind – bis ich dann wieder verzweifle, weil noch so viele Seiten vor mir liegen. Dabei reißt das Buch reihenweise die Kritiker von den Hockern. Was mache ich falsch? Die amerikanische Autorin, die bereits elf Romane publiziert hat und Creative Writing unterrichtet, präsentiert mir eine Handvoll Menschen, die sich selbst das Prädikat interessant aufgeklebt haben. Nun erwarte ich freilich herausragende Besonderheiten, ungewöhnliche Eigenschaften, glanzvolle Karrieren, tiefgründige Persönlichkeiten. Oder – auch diese Möglichkeit ziehe ich in Betracht – Meg Wolitzer betrachtet ihr Buch als großen Gag und ruft am Ende lachend: Ha! Die sind ja gar nicht so interessant. Ganz normale Leute.

Ich finde das Buch für 600 Seiten reichlich ereignisarm. Der Circle of Trust der Protagonisten ist eng, und sie sind Menschen, die nur um sich selbst kreisen. Meg Wolitzer erzählt sehr distanziert und wenig szenisch von den Problemen, die Ethan, Ash und Julie beschäftigen, beschreibt sie, skizziert sie auf sehr klassische Weise, die reiche Ehefrau, die sich langweilt, der Depressive, der immer schläft. Ich kann das alles sehen, aber es berührt mich nicht im Geringsten. Zudem bekommt ausgerechnet die zentrale Figur, um deren Aufmerksamkeit alle buhlen und die so seltsam entrückt wirkt, keine eigene Perspektive: Ash. Sie ist schön, ja, aber glatt, kühl, egozentrisch, vielleicht – ich weiß es nicht, weil ich diese Figur in ihren Handlungsweisen und Gefühlsregungen bis zum Ende nicht verstehe. Nun ist es so, dass dieses Buch viel Lob bekommen hat, und ich habe es tatsächlich bis zum Schluss gelesen. Zwischendrin sogar sehr gern. Weil die Autorin auf jeden Fall ihr Handwerk versteht, weil ich wissen wollte, wie es den Charakteren ergeht. Sie hätte eventuell chronologisch vorgehen und die Spannung erhalten können, aber ich vermute, dass es ihr darum nicht ging. Sie wollte wohl einfach nur berichten, wie ein paar exemplarische Leben im New York der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hätten verlaufen können. Viele Leser fanden das interessant, ich fand es okay.

BannerDie Interessanten von Meg Wolitzer ist erschienen im Dumont Buchverlag (ISBN 978-3-8321-9745-2, 608 Seiten, 22,99 Euro).

Noch mehr Futter:
– „Und wenn man ihn zuklappt, diesen Roman, ist man wieder ein bisschen dankbarer, dass es die Literatur gibt“, schwärmt Sophie von Literaturen.
– „Schon das regenbogenfarbene Cover des Buches lässt vermuten, dass hier viel buntes, aufregendes Leben im Spiel sein muss. Und das ist es wahrhaftig“, zeigt sich die Klappentexterin begeistert.
– „Wolitzers Stärke liegt dabei nicht so sehr im Hintersinn, das wird schnell deutlich. 40 Jahre wollen erst mal erzählt sein, für sprachliche Originalität, für Indifferenzen ist wenig Platz“, heißt es auf spiegel.de.
– Und hier könnt ihr den Roman auf ocelot.de bestellen.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

ODonnell„Ich lass mir niemals ein Tattoo stechen. Meine Geheimnisse sind sicher in meinem Inneren eingeritzt, und da sollen sie auch bleiben“
An ihrem 15. Geburtstag hebt Marnie mit ihrer jüngeren Schwester Nelly ein Grab aus – für ihre Eltern. Gene wurde mit einem Kissen erstickt, Izzy hat sich aufgehängt. Für die Mädchen macht es keinen großen Unterschied, dass die Eltern tot sind, denn die haben sich vorher auch nie um ihre Kinder gekümmert, sondern sich mit Alkohol und Drogen weggeschossen. Blöd ist nur, dass es jetzt im ganzen Haus nach Verwesung stinkt. Und dass die Mädchen kein Geld haben. Und dass ihnen die Behörden auf die Schliche kommen und die Schwestern ins Heim stecken könnten. Das erste Problem löst Marnie mit Bleiche, das zweite mit einem Job bei Drogendealer Mick, von dem sie sich auch vögeln lässt. Beim dritten Problem setzen die Schwestern auf Zeit. Nachbar Lennie, ein alter, einsamer, homosexueller Mann, merkt bald, dass nebenan etwas faul ist, aber statt Fragen zu stellen, sorgt er für Marnie und Nelly, kocht für sie, lässt sie bei sich schlafen, freut sich über ihre Gesellschaft. Weder in der Schule noch beim Sozialamt merkt jemand, dass Gene und Izzy tot sind, und so glauben die Mädchen, sie könnten bis zu Marnies 16. Geburtstag unentdeckt bleiben, sodass sie das Sorgerecht übernehmen kann. Doch dann taucht Izzys Vater auf, der früher Alkoholiker und ein Schläger war. Jetzt ist er trocken und religiös – und fest entschlossen, seine Tochter zu finden …

Lisa O’Donnell, die in L. A. lebt, hat mit ihrem ersten Roman Bienensterben ein richtig krasses Buch geschrieben. Wenn man es öffnet, fliegt einem sofort die Scheiße um die Ohren. In einem derben, direkten Ton berichten die Ich-Erzählerinnen Marnie und Nelly, was passiert ist, seit sie ihre Eltern im Garten verbuddelt haben. Sie haben Angst. Sie haben Hunger. Und sie sind allein. An all das sind sie seit ihrer frühesten Kindheit gewöhnt, denn Gene und Izzy waren beschissene Eltern. Trotzdem ist es schwierig für die Mädchen, das Geheimnis ihren Freundinnen gegenüber zu wahren, nicht auszuflippen, so zu tun, als sei alles normal: „Wir haben uns in der Bibliothek getroffen und sollten Lerngruppen bilden. Es war voll der Krampf, wir hatten so ungefähr nichts gemeinsam. Ihre Eltern sind Steuerberater und Anwälte, und meine sind im Garten begraben.“ Zur Überraschung ihres Umfelds sind Marnie und Nelly richtig schlau, schreiben gute Noten, hätten gute Zukunftsaussichten. Doch keiner, der aus ihrem Viertel stammt, bringt es zu irgendwas. Gewalt und Drogen prägen hier das Leben der Arbeitslosen, Junkies und Zuwanderer. Lennie, der im Buch ebenfalls eine eigene Perspektive bekommt, gilt als Perverser, ist aber eigentlich eine gute Seele. Was man vom plötzlich auftauchenden Opa nicht behaupten kann – und so sind die Mädchen ständig irgendeiner Gefahr ausgesetzt. Das ist der helle Wahnsinn.

In Bienensterben wird geschrien, geheult, gekotzt und gevögelt. Der Roman ist heftig, schonungslos, bitter. Lisa O’Donnell rückt Existenzen ins grelle Rampenlicht, die für gewöhnlich nur im Schatten stehen. Marnie und Nelly sind tough und verletzlich zugleich, völlig verzweifelt, aber zäh. Sie kämpfen ebenso miteinander wie gegeneinander. Die Autorin skizziert ihre Figuren absolut glaubwürdig und auf sehr ergreifende Weise. Natürlich geht ihr Buch unter die Haut – und zwar wie mit einem Tacker, der losschießt und sich festhakt. Es ist mir kaum möglich, Bienensterben zur Seite zu legen, so sehr fesselt mich diese ungewöhnliche, knallharte Story aus einer Welt, die mir völlig fremd ist. Zum Glück. Absolute Empfehlung!

Bienensterben von Lisa O’Donnell ist erschienen im Dumont Buchverlag (ISBN 978-3-8321-9728-5 , 320 Seiten, 16,99 Euro).

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Noch mehr Futter:
– „Bienensterben ist ein ungewöhnliches, ein aufrüttelndes Buch, das uns wieder einmal ins Gedächtnis ruft, wie viel Leid und Hilflosigkeit sich hinter so mancher verschlossener Haustür verbirgt“, schreibt Sophie in ihrer Rezension auf Literaturen.
– „Lisa O’Donnells Debüt Bienensterben beeindruckt mit sprachlicher und erzählerischer Raffinesse“, heißt es im Medienjournal-Blog.
– „Wenn überhaupt, dann ist Bienensterben von Lisa O Donnell die unartige Hänsel-und-Gretel-Rache an einer durch und durch schlechten Erwachsenenwelt“, urteilt Karo von deepread.
– Und hier könnt ihr den Roman auf ocelot.de bestellen.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Beauman„Es ist mir schon beinahe peinlich, dass ich noch nie jemanden entführt habe. Als wäre man der Letzte in der Klasse, der noch nie an einem Mädchen rumgefingert hat“
Raf leidet an einer seltsamen Schlafstörung, die dazu führt, dass er einen 25-Stunden-Rhythmus hat. Das bedeutet, dass er nie mit den normalen Menschen synchron ist und keiner geregelten Arbeit nachgehen kann. Er führt jeden Tag den Hund aus, der auf einem Dach die Senderbox eines Piratensenders bewacht, und ist ständig im Londoner Nachtleben unterwegs – gemeinsam mit seinem Freund Isaac, der DJ ist und regelmäßig bewusstseinsverändernde Substanzen ausprobiert. Gerade als Raf die neue Modedroge Glow testen will, lernt er die schöne Cherish kennen. Wenig später trifft er sie durch einen vermeintlichen Zufall wieder – und steckt plötzlich mittendrin im Kampf der burmesischen Einwanderer, zu denen Cherish gehört, gegen den skrupellosen Megakonzern Lacebark. Burmesen werden auf offener Straße von geräuschlosen weißen Lieferwagen entführt, Lacebark baut in geheimen Hallen eine täuschend echte Stadt nach, und Raf erfährt nach und nach, was das eine mit dem anderen zu tun hat – und dass für die Herstellung von Glow Fuchsscheiße essenziell ist. Die ganze Sache könnte fast ein bisschen Spaß machen – wäre Rafs Freund Ted nicht schon tot und er selbst in größter Gefahr.

Glow von Ned Beauman ist ein erstaunlich verrücktes Buch. Und dabei erstaunlich wenig anstrengend. Sondern vielmehr rasant, absurd, amüsant und unterhaltsam. Der englische Autor, der als Journalist arbeitet, hat sich für seinen dritten Roman eine reichlich komplizierte Geschichte ausgedacht, in der alles wild durcheinanderwirbelt: Drogen, Freiheitskampf, Entführungen, Agenten, Burmas Dschungel, jede Menge Füchse und die Hormone der Verliebten. Ich verliere bei abstrusen Geschichten, die zu sehr ausufern, schnell die Geduld. Bei Glow ist das aber überhaupt nicht der Fall. Zwar frage ich mich ungefähr auf jeder dritten Seite, was dem Autor wohl noch Unerwartetes einfällt, aber es gelingt ihm, mich trotz aller Verrücktheiten bei der Stange zu halten. Glow verlangt viel Konzentration und Aufmerksamkeit – dann versteht man es auch.

Dieses Buch macht überhaupt keinen Sinn. Nein, okay, ein bisschen schon. Obwohl – eigentlich doch nicht. Glow ist ebenso originell wie verwirrend, lustig, wild und absolut unvorhersehbar. Das Schöne an dem Roman ist, dass er nicht belehren will, dass die Moral nur ab und zu beim Fenster hereinschaut und dass es mehr um das pure Vergnügen an einer fantasievollen Story geht. Raf ist ein sympathischer, planloser junger Kerl, sehr authentisch und glaubwürdig, obwohl nichts von dem, was ihm zustößt, auch nur annähernd wahrscheinlich erscheint. Auf ihn und auf mich warten in diesem Buch jede Menge Überraschungen, und die sind alles andere als positiv. Machen aber umso mehr Spaß beim Lesen. Glow ist – Entschuldigung – ein kleines Glühwürmchen von einem Buch, das herausleuchtet aus der Masse der Neuerscheinungen. Und deshalb solltet ihr es lesen!

BannerGlow von Ned Beauman ist erschienen bei Hoffmann und Campe (ISBN 978-3-455-40454-8, 320 Seiten, 22 Euro).

Noch mehr Futter:
– „Manchmal köstlich, mitunter schwer verdaulich, eindeutig berauschend – auch wenn man zeitweise keine Ahnung hat, was man eigentlich konsumiert”, schreibt diepresse.com.
– „And it is worth taking a moment to celebrate Beauman’s great originality and skill – as a maker of phrase, as a master of simile, as a scrupulous selector of words”, heißt es auf theguardian.com.
– Hier könnt ihr das Buch auf ocelot.de bestellen.

Lieblingsfutter

IMG_1261Otto Fritsch, Jahrgang 1955, Leiter des Tourismusverbands Radstadt und großer Musikfan

Siddhartha von Hermann Hesse ist noch immer mein Lieblingsbuch (seit über 40 Jahren!), weil es den Weg zur Selbstfindung eines Menschen wunderbar beschreibt. Hesse zeigt keine Lösung auf, sondern lässt alles offen. Es ist eines der wenigen optimistischen Bücher des 20. Jhdts.

Empfehlen möchte ich es jedem Menschen, der sich ein wenig von den gesellschaftlichen Zwängen lösen möchte – perfekt zum Abtauchen in sich selbst! Tipp für „Multitasker“: Siddharta lesen und im Hintergrund ruhige Musik von Chris Jones hören.

Wenn ich lese, dann ist meine Ledercouch gefragt. Im Hintergrund Musik von David Crosby, van Morrison oder Keith Jarrett, eine Tafel Schokolade in Griffnähe und dann kann mich die ganze Welt einmal gernhaben!

BannerSiddharta von Hermann Hesse ist 1974 erschienen im Suhrkamp Verlag (ISBN 978-3518366820, 128 Seiten, 6,99 Euro).

Und was ist dein Lieblingsfutter? Wer mitmachen möchte, schickt seine Antworten auf die Fragen oben an office_at_mareikefallwickl.at. Ich freu mich!

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Canal„Die Musik ist meine Tarnkappe. Ich wünschte, ich könnte sie ewig tragen“
„Wie oft kann ein Mensch von vorn beginnen? Und wie oft kann man das eigentlich aushalten? Wie oft kann ich mich häuten, bis nichts mehr von mir übrig ist?“ Das fragt sich Laurits, der als Pianist auf einem Kreuzfahrtschiff unterwegs ist, auf der Flucht vor der Frau, die er schwanger in Italien zurückgelassen hat, und auf der Flucht vor viel älteren Erinnerungen, die ihn quälen. Als Kind entdeckte er die Musik und übte fleißig am Klavier, die Aufnahme ans Konservatorium war sein Traum – doch er scheiterte, musste sich dem Vater fügen, der Arzt war, und Medizin studieren. Jahre später führt er als angesehener Gynäkologe, glücklicher Ehemann und stolzer Vater einer Tochter ein angenehmes Leben, in dem die Musik keinen Platz hat. Doch als er durch Zufall von einer Intrige seines Vaters erfährt, trifft er eine folgenschwere Entscheidung, die ihm noch jahrzehntelang keine Ruhe lassen wird …

Die deutsche Autorin Anne von Canal hat ihren ersten Roman Der Grund fein komponiert. Im Vordergrund dieses vielschichtigen Buchs stehen die Musik, die Leidenschaft für Musik und ein unheilvoller, unergründlicher Schmerz, dessen Ursprung ich anfangs nicht kenne. Protagonist Laurits nimmt mich mit auf eine Kreuzfahrt, er unterhält dort die Gäste und mich mit seiner Klavierkunst, er ist verhärmt, verbittert, rastlos und gelähmt zugleich. Schnell ist klar, dass er nicht immer der war, der er jetzt ist. An sein altes Leben will er sich nicht erinnern – und tut es doch. So wechselt der Roman zwischen der Ich-Perspektive von Laurits, die einem Tagebuch oder Logbuch gleicht, und der auktorialen Erzählung seiner Vergangenheit, die wesentlich melodischer und sprachgewaltiger ist.

Der Grund ist ein Buch, das mich unheimlich neugierig gemacht hat. Ich wollte unbedingt wissen, was Laurits geschehen ist und wie er vom Arzt und Familienvater zum vereinsamten, rücksichtslosen Barpianisten werden konnte. Anne von Canal streut im gesamten Roman immer wieder gekonnt Hinweise aus, beendet ihre Sinfonie aus Worten aber dennoch mit einem überraschenden Tusch. Dann zeigt sich endlich, woher Laurits‘ Schmerz rührt und dass er ganz aus der Tiefe kommt. Dies ist ein trauriges, melancholisches Buch, ein Bericht über Schicksalsschläge und die Unmöglichkeit, weiterzuleben wie davor. Es ist ein Roman über die Schönheit der Musik, die beruhigen, aber letztlich nicht heilen kann. Ich habe Der Grund sehr gern und aufgrund meiner Neugier sehr schnell gelesen, geradezu inhaliert, und mich an keinen Unebenheiten gestoßen, im Gegenteil: Die Sprache ist schlicht, elegant, tiefgründig. Sehr lesenswert!

BannerDer Grund von Anne von Canal ist erschienen im mare Verlag (ISBN 978-3-86648-196-1, 272 Seiten, 20 Euro).

Noch mehr Futter:
– Hier könnt ihr Anne von Canal beim Vorlesen zusehen.
– „Was für ein wundervolles, wundervolles, möchte fast sagen: perfektes Buch“, schreibt Isabel Bogdan in ihrem Blog.
– „Anne von Canal ist ein bewegender, rührender Roman gelungen über unsere Unfähigkeit, mit allzu großer Trauer fertig zu werden“, heißt es in der Besprechung auf ndr.de.
– Hier könnt ihr das Buch auf ocelot.de bestellen.