Bücherwurmloch

„Wer sagt denn, dass das erste Mal immer das beste sein muss?“

Seltsames Buch irgendwie, hab ich gedacht, und eigentlich hatte ich es eher in der Hand, um es auszusortieren. Aber dann ist passiert, was manchmal passiert: Ich hab mich festgelesen. Auf den ersten Seiten stehen nicht-chronologische Miniaturen, die mich durch ihre Eigenwilligkeit neugierig gemacht haben, und so habe ich schließlich alle in diesem Band versammelten Essays der amerikanischen Literaturprofessorin CJ Hauser gelesen. Manche mit viel, andere mit weniger Genuss. Wovon sie handeln, kann ich euch nicht sagen, weil sie sich nicht auf ein Kernthema herunterbrechen lassen. Oder vielleicht doch: Es geht auf jeden Fall um die Liebe. Darum, wie sie zerbricht. Ums Aufwachsen und um Teenager, um einen Film mit Audrey Hepburn, um das Rebecca-Motiv, um reale und erfundene Dialoge. Es geht um alles und gleichzeitig um absolut nichts, das ist stellenweise beglückend, dann wieder unfassbar langweilig. Ich hab lange für dieses Buch gebraucht, hab es oft weggelegt, aber jedes Mal weitergelesen, und das ist genau der Punkt, es übt eine schwer greifbare Faszination aus. Man kommt CJ Hauser sehr nah und erfährt zur gleichen Zeit kaum etwas über sie, alles hängt in der Schwebe, könnte ausgedacht sein oder wahr, und irgendwie denkt man dann auch ein bisschen über das eigene Leben nach. Filme, die man selbst obsessiv angeschaut hat, Menschen, die man obsessiv geliebt hat, wie man als Jugendliche:r gewesen ist und ob das überhaupt stimmt oder man sich nur auf diese Art an das eigene Ich erinnern will. Ein wirklich ungewöhnliches Buch.

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„Der Fall hat veranschaulicht, dass wir kaum eine Vorstellung davon haben, was einvernehmlicher Sex bedeuten könnte“

Was bildet sich Mariah Carey eigentlich ein? Hat eine Frau wie Pamela Anderson ein Recht auf Privatsphäre? Wie hat der „Nipplegate“ Janet Jackson zurückgelassen? Und wieso passt Natascha Kampusch nicht in das Opferbild, das wir gern hätten? Diese und viele andere Fragen haut euch dieses Buch um die Ohren und stellt euch damit einen riesigen Spiegel vors Gesicht. Nach allem, was wir wissen über Frauen, die ausradiert wurden, Frauen, die aus der Geschichte hinausgeschrieben wurden, obwohl sie da waren, existiert haben, Einfluss hatten, Frauen, deren Werke und Erfindungen und Beiträge missachtet wurden, überrascht es freilich nicht, dass wir auch mit prominenten Frauen aufs Grausamste umgehen. Dass wir sie ungerecht behandeln, stets durch den Filter der Misogynie betrachten und ihnen das Leben schwerer machen als ihren männlichen Kollegen. Wie genau das vor sich geht und welchen Frauen das bereits passiert ist, verblüfft dann aber irgendwie doch. Die Herausgeberinnen Beate Hausbichler und Noura Maan haben Paris Hilton und Anna Nicole Smith, Yoko Ono und Courtney Love ins rechte Licht gerückt, insgesamt 28 Frauen, deren Namen – und vermeintlichen Geschichten – wir alle kennen. Und kommen wir zurück zu dem Spiegel, denn „die Gesellschaft“, die so hart mit diesen Frauen umgegangen ist, ist kein abstraktes Gebilde, zu dem wir verächtlich hinüberblinzeln könnten. Nein, die Gesellschaft, das sind wir. Wir alle beteiligen uns nur zu gern an Frauenhass und Hetzjagd, wir teilen und reproduzieren und verstärken jeden Hieb, der ausgeteilt wird. Der erste Schritt zu Veränderung ist immer Bewusstwerdung, und deshalb sind Bücher wie dieses so wichtig: Sie können uns die Augen öffnen. Sie zeigen uns, was wir bisher falsch gemacht haben. Und dann eröffnet sich die Möglichkeit, es in Zukunft besser zu machen. 

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„Wieder war ein Tag vergangen, und ich war niemandem zur Last gefallen“

„Und wäre es nicht das Normalste der Welt, mich nach allem, was mir widerfahren war, in den Schlaf zu weinen?“

Suzu lebt in einer japanischen Großstadt, und sie lebt da sehr allein. Außer zu ihrem Hamster hat sie kaum Kontakt zu anderen Lebewesen. Als sie ihren Job verliert und von einem Typen geghostet wird, versinkt sie vollkommen in der Einsamkeit. Aber sie muss freilich Geld verdienen, und so macht sie sich auf die Suche nach einer neuen Einkommensquelle. Was sie findet, überrascht sie selbst: Fortan arbeitet Suzu bei einer Firma, die jene Wohnungen reinigt, in denen jemand verstorben ist. Meistens handelt es sich bei den Todesfällen um Kodokushi, das bedeutet, dass jemand schon länger tot war, aber nicht vermisst wurde – die Wohnungen sind also oft in einem nicht gerade angenehmen Zustand. Suzu und ihre Kolleg:innen gehen damit aber sehr respektvoll um, sie ekeln sich nicht. Besonders freundlich und entgegenkommend ist der Chef, der es beispielsweise ermöglicht, dass Suzu sich um Takada kümmert, als dieser schwer erkrankt. Er zieht ihnen das nicht von der Arbeitszeit ab und macht auch keinen Druck. Überhaupt entwickelt sich diese Kollegschaft zu einer Art Ersatzfamilie, in der Suzu sich wohlfühlt.

Milena Michiko Flašar erzählt gewohnt einfühlsam und zärtlich von Figuren, die ein bisschen angedetscht sind, sich beinahe ungesehen durch den gesellschaftlichen Raum bewegen, die voller Sehnsucht sind, aber auch ein wenig lethargisch. Ihre Beschreibungen des japanischen Lebens sind immer sehr lesenswert, ihre Romane sind ruhig, unaufgeregt, voll leiser Zwischentöne und weiser Einsichten. In diesem Fall geht es notgedrungen viel um den Tod und das, was wir hinterlassen, um diese spezielle Traurigkeit, wenn ein Leben unbemerkt endet, weil man niemandem wichtig war. Was macht es mit einer Frau, die selbst allein ist und permanent mit Kodokushi konfrontiert wird? Ich bin der Geschichte von Suzu und den anderen gern gefolgt, das Buch hatte fast eine meditative Wirkung auf mich, und ich mag es euch auf jeden Fall empfehlen. 

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„Das ist die Geschichte von allen Mädchen, die durch die Falltür gestürzt sind. Wie leicht konnte man damals verschwinden“

Die Ich-Erzählerin ist eine in ganz Italien berühmte, sehr erfolgreiche Schriftstellerin geworden. Ihre Freundin Federica aus der Jugendzeit meldet sich unvermittelt bei ihr, sie haben sich seit dreißig Jahren nicht gesehen – damals ist etwas geschehen, das sie noch heute mit sich tragen, und es hatte mit Federicas großer Schwester Livia, die sie um ihre Schönheit beneidet haben, zu tun. Und jetzt? Können die beiden sich nach so langer Zeit wieder annähern, wollen sie das überhaupt? Die Autorin erzählt von sich selbst, von ihrer Tochter, die nichts mit ihr zu tun haben möchte, vom Erfolg und von früher. In einem wilden Mix, der keiner Chronologie und auch keinem roten Faden zu folgen scheint, führt sie uns an das Ereignis von damals heran, an ihr eigenes Körperbild und ihren schwelenden Zorn. Es ist spektakulär, wie missmutig und neidisch sie ist, und an manchen Stellen beschleicht einen auch das Gefühl, dass sie eventuell nur die halbe Wahrheit sagt.

Teresa Ciabatti, die in ihrer Heimat Italien mehrfach nominiert und ausgezeichnet wurde – beispielsweise für das Drehbuch zum Film „Tre metri sopra il cielo“, hat einen intensiven Roman mit einer ungewöhnlichen Stimme geschrieben, der im Grunde keine Handlung hat und doch so viel erzählt. Richtig packend ist das, die Geschichte schlägt Salti und knallt einem immer wieder unerwartet ins Gesicht. Der Roman thematisiert Bodyshaming und Selbsthass, eine beschissene Mutter-Tochter-Beziehung, eine im Grunde ebenso beschissene Mädchenfreundschaft, außerdem patriarchale Gewalt und die Angst, mit der Frauen permanent leben müssen. Das wird einem regelrecht hingerotzt, fast schon hingekotzt, manchmal war ich beinahe ein wenig außer Atem von derart viel Bosheit und Schmerz. „Die schönen Jahre“ ist kein angenehmes, aber ein außergewöhnliches Buch, das ich in kürzester Zeit inhaliert habe.

„Wir sind alle nichts weiter als ein Haufen Knochen, liebe Mädchen.“

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„Sie hatte immer geglaubt, Mutter zu werden bedeutete, einer Gemeinschaft beizutreten“

Ob das Vergehen von Frida schlimm oder nicht ganz so schlimm ist, darüber lässt sich streiten: Sie fährt alleine los, um Unterlagen von ihrem Arbeitsplatz zu holen, und nimmt ihre kleine kranke Tochter nicht mit. Harriet hat die ganze Nacht geweint, Frida ist übermüdet und muss Geld verdienen, ein, zwei Stunden, denkt sie, kann die Kleine zuhause bleiben, doch das Nächste, was passiert, ist, dass Frida verhaftet wird. Während sie noch denkt, dass sie eine Chance hat, dieses Vergehen auszubügeln, werden ihr sämtliche Rechte als Mutter entzogen und sie landet in einer Art Gefängnis, wo sie keinerlei Kontakt zur Außenwelt haben darf – für ein Jahr. In dieser Zeit muss Frida beweisen, dass sie eine gute Mutter sein kann.

„Die meisten gängigen Krankheiten lassen sich durch Mutterliebe heilen“

Was Frida und die anderen Mütter tun müssen, ist ebenso unglaublich wie logisch: Die amerikanische Autorin Jessamine Chan hat ungefähr alle Glaubenssätze über Mutterschaft versammelt und in Aktionen umgesetzt. Dieser Teil des Romans ist grausam, krass und extrem langatmig, weil sie wirklich im Detail jeden einzelnen Entwicklungsschritt durchdekliniert: spielen, wickeln, trösten, sprechen lernen und so weiter. Die Frauen zerbrechen nicht nur am eisigen Umgang mit ihnen und miteinander, sondern auch daran, dass sie ihre echten Kinder vermissen – Frida beispielsweise kann nichts dagegen tun, dass ihre Tochter bei ihrem Vater und dessen neuer Partnerin aufwächst. 

„Die Mütter stellen sich vor, was sie tun würden, wenn sie Zugang zu Messern, Scheren oder Chemikalien hätten“

Institut für gute Mütter ist ein heftiger, aufwühlender Roman über Mutterschaft, das Tabu der Mutterliebe und die Tatsache, dass wir Müttern immer die Schuld an allem geben. Sie können nichts richtig machen, weil es nicht möglich ist im Patriarchat. Zwischendrin fand ich das Buch zu lang und zu überladen, generell aber durchaus lesenswert.

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„Im Grunde ist es immer das Gleiche: Was man sich nicht vorstellen kann oder sich nicht vorstellen will, wird man in der Archäologie auch nur schwer finden.“

Das schreibt die deutsch-französische Journalistin Annabelle Hirsch im Kapitel über das Hnefatafl-Spiel und die spektakuläre Entdeckung aus dem Jahr 2017: dass nämlich ein Wikinger-Grab, das wegen der Waffen stets einem Mann zugeschrieben war, in Wirklichkeit das Skelett einer weiblichen Kriegerin enthielt. Und das ist nur ein Beispiel von den exakt einhundert, mit denen Annabelle Hirsch unsere Geschichtsschreibung entlarvt und neu ordnet: In diesem hervorragend recherchierten Buch zeigt sie uns Objekte, die wir kennen, und solche, die wir nie gesehen haben. Bei Ersteren wird klar, dass wir nur geglaubt haben, sie zu kennen, bei den anderen, dass sie uns oft absichtlich vorenthalten wurden. Denn im Patriarchat wird nun einmal alles Männliche aufs Podest gestellt, und das, was wir als weiblich konnotieren, fällt in den Schatten. Aber was gibt es da alles zu entdecken! Was gibt es da alles zu lernen und zu verstehen! Es ist ebenso interessant wie tragisch, und am meisten mag ich Annabelle Hirschs Ton, sie schreibt gewitzt und gleichzeitig ernst, mit einem humorvollen Augenzwinkern und trotzdem absolut seriös. Ich liebe, liebe, liebe dieses Buch und werde es in die Riege der besten Sachbücher aufnehmen, die ich kenne. Ich habe mich wochenlang damit beschäftigt und jeden Abend über zwei bis drei Dinge gelesen. Über die Hungermedaille der Suffragetten und die ägyptische Königin Hatschepsut, über den rechten Arm von George Sand und die Fanoos-Lampe, über den ersten androgyn geschnittenen Mantel aus dem Jahr 1923 und einen Klebezettel der Widerstandsgruppe „Rote Kapelle“. Ich weiß jetzt noch mehr über die Pille, den Ursprung des Worts Feminismus und Aretha Franklin. Ich ziehe meinen Hut vor Annabelle Hirsch, es muss Jahre gedauert haben, alle diese Informationen zusammenzutragen – die ja nicht einfach so zugänglich sind, sondern verschüttet liegen unter Jahrhunderten falscher patriarchaler Gewichtung und gezielter Lügen. Gönnt euch dieses Buch, verschenkt es, lest es, öffnet euren Blick für die Perspektive der Frauen, es wird euch enorm bereichern, faszinieren, erstaunen und begeistern, ich verspreche es.

Bücherwurmloch

„Dies ist ein weiblicher Text geschrieben im einundzwanzigsten Jahrhundert. Wie spät es ist. Wie viel sich verändert hat. Wie wenig.“

Mir ist dieses Buch mehrmals begegnet, bevor es von Cornelius Reiber und Jens Friebe ins Deutsche übersetzt wurde, trotzdem hatte ich keine Ahnung, was mich erwartet, als ich es in die Hand genommen habe: Was willst du von mir, habe ich mich auf den ersten Seiten gefragt, was bist du? Aber schon nach kurzer Zeit habe ich gedacht: Es ist mir egal, was du bist und was du willst, ich gehe mit dir, ich folge dir überallhin. So sehr hat die irische Lyrikerin Doireann Ní Ghríofa mich in den Bann gezogen. Und das ist erstaunlich, denn auch jetzt, nachdem ich dieses preisgekrönte Buch inhaliert, gelesen, geliebt habe, kann ich euch nicht genau beschreiben, was euch erwartet, kann euch kein klares Genre nennen. Aber ich weiß, dass dies noch Ende des Jahres eines der allerbesten Bücher sein wird, die ich 2023 gelesen haben werde, da bin ich mir absolut sicher. Als sie es geschrieben hat, hatte Doireann Ní Ghríofa vier Kinder unter sechs Jahren, eines davon ein Baby, sie hat gestillt und Milch abgepumpt, beschreibt detailliert, wie sie sich in Care-Arbeit verloren hat und darin aufgegangen ist, sie ist nah am weiblichen Körper, an Schwangerschaft, an Mutterschaft. In dieser Zeit hat sie sich auch mit einem sehr besonderen irischen Gedicht aus dem 18. Jahrhundert beschäftigt, das ein nationaler Mythos ist. Viele Jahre lang hat Doireann Ní Ghríofa nach Spuren von Eibhlín Dubh Ní Chonaill gesucht, hat durch die Jahrhunderte nach ihr gerufen, hat geforscht und recherchiert, ihre Zeilen übersetzt, wieder und wieder, um ihr nahe zu kommen. Und hat festgestellt, dass es Aufzeichnungen über die Männer gibt – während die Frauen es nicht wert waren, erwähnt zu werden. „Ein Geist in der Kehle“ ist eine wilde, faszinierende, unglaublich kreative und sprachmächtige Mischung aus Autofiktion, Recherchebericht und Lyrik. Ich finde es großartig, dass der Verlag dieses Buch zum Spitzentitel gemacht hat – und gleichzeitig kurios, dass sie es von Männern übersetzen haben lassen. Ob das einen Unterschied macht, kann ich nicht beurteilen. Aber Tatsache ist, dass es stimmt: Dies ist ein weiblicher Text. Und ein hervorragender noch dazu. Lest ihn unbedingt!

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„Es gibt keine getrennte Frauen- und Männergeschichte. Die ganze Geschichte ist unsere Geschichte, in der Frauen endlich einen angemessenen Platz erhalten müssen.“

Das schreibt die Journalistin und Reporterin Vera Weidenbach schon im Vorwort, und ich mag es, mit welchem Ansatz sie an dieses Vorhaben herangegangen ist: Frauen müssen nicht in die Geschichte hineingeschrieben werden, sie waren immer schon drin. Wir haben nur alle Aufzeichnungen so gestaltet, dass sie nicht vorkommen, nicht erwähnt werden – ihre Errungenschaften haben wir allzu oft als die von Männern verzeichnet und in Erinnerung behalten. Vera Weidenbach erzählt die Geschichte nun also nicht neu, sie erzählt sie so, wie sie in Wahrheit gewesen ist: Lotte Reininger hat den ersten Trickfilm kreiert, nicht Walt Disney. Camille Claudel war die erste Bildhauerin der Moderne, und ihr wurde übel mitgespielt. Ada Lovelace schrieb nicht nur die Aufzeichnungen eines Mannes nieder, sondern erdachte in Wirklichkeit das erste Computerprogramm. Sie waren überall, diese Frauen, und auch wenn ihnen der Zugang zu Bildung, zu Beruf und freiem Denken verunmöglicht und erschwert wurde, waren sie kreativ und klug und mutig und wichtig. 

„Unterdrückung funktioniert am besten, wenn die Unterdrückten nicht bemerken, dass sie gerade unterdrückt werden. Und am allerbesten ist es, wenn sie die Fehler nicht im System suchen, sondern bei sich selbst.“

Im Gegensatz zu anderen Büchern erzählt Vera Weidenbach nicht anhand einzelner Frauenbiografien und widmet sich dann der nächsten, sondern hantelt sich am Lauf der Zeit entlang – und legt den Fokus auf jene Frauenstimmen, die zum Schweigen gebracht wurden. Wenn es beispielsweise um die 1920er geht, so wird berichtet, was damals gerade los war auf der Welt – und auf welche Weise welche Frauen daran Anteil hatten. Das finde ich sehr interessant und gelungen, es ist, als würden wir zu allem, was wir gelernt haben, zurückgehen – und es diesmal mit anderen Augen betrachten. Äußerst lesenswert!

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„Erwachsene sitzen im Gefängnis. Wir sitzen in der Vorschule.“

„Meine Mutter hat es fast geschafft mich umzubringen. Mehr als einmal. Aber ich habe mich jetzt entschieden. Ich bin viel gefährlicher als sie denkt.“

Agnes versteht schon bei ihrer Geburt, dass sie bei einer Mutter gelandet ist, die ihr nichts Gutes will – die überhaupt kein Kind will. Während sie bei den Großeltern lebt und die Mutter in Behandlung ist, ist alles halbwegs okay. Doch als Anitamama Agnes wieder zu sich nimmt, beginnt ein Überlebenskampf, den eine Zweijährige kaum gewinnen kann. Später kommen Ersatzväter ins Leben, die ihr manchmal helfen, manchmal nicht. Was alles noch schlimmer macht, ist die Tatsache, dass Agnes am Klavier das Talent eines Wunderkindes hat. Das kann die Mutter nicht ertragen – und es bringt Agnes in die Fänge eines Lehrers, der musikalisch begabte Kinder um sich schart, weil er es liebt, Zeit mit ihnen zu verbringen. Und was denken wir sofort, wenn es um ältere Männer geht, die sich an Kinder ranwanzen? Eben.

Wegen der ersten Seite von „Die Wut, die bleibt“ spreche ich bei allen meinen Veranstaltungen über ein bestimmtes literarisches Narrativ: dass Väter sich entziehen, das kennen wir, das erlauben wir, bei Müttern dagegen muss es eine Hintergrundgeschichte geben wie Alkohol und Drogen, Missbrauch und daraus resultierende Unfähigkeit zur Mutterschaft, etwas, das erklärt, wieso die Mutter ihr Kind nicht gernhat, beliebt ist auch das Narrativ, dass die Mutter Schauspielerin oder Sängerin werden wollte, und das Kind steht im Weg. Dafür hat sich Karin Smirnoff in ihrem zweiten von Ursel Allenstein ins Deutsche übersetzten Roman entschieden, der erneut ohne Satzzeichen außer Punkte auskommt und dadurch dieselbe Gehetztheit hat wie „Mein Bruder“. Die schwedische Autorin kann mit schlichten Sätzen gewaltige Gefühle wachrufen, sie hat keine Angst vor den menschlichen Abgründen, schaut direkt hinein – und schmeißt die Lesenden hinunter. Während mich das bei „Mein Bruder“ sehr fasziniert hat, bin ich der Geschichte von „Wunderkind“ nicht so gern gefolgt, auch wenn Agnes mir notgedrungen ans Herz gewachsen ist. Ich finde den Roman sehr einseitig, fast zu heftig, aber vielleicht ist auch einfach das Wissen, dass Kinder so aufwachsen, dass sie nicht geliebt, umgebracht und missbraucht werden, schwer zu ertragen. Dies ist ein harter, grenzwertiger Roman, für den man gute Nerven braucht. 

Bücherwurmloch

Okay, wow. Ehrlich, Leute: WOW. Dieses Buch hat mich umgehauen, mir ganz neue Erkenntnisse geschenkt, es war unglaublich bereichernd. Seine Anfänge liegen im Jahr 1982, da haben sich nämlich einige Aktivistinnen in Wien getroffen und gefordert, die internationalen Beziehungen des Landes Österreich und seine „Entwicklungshilfe“ anhand von feministischen Kriterien zu überprüfen. Die Gruppe machte ernst und gründete die Frauen*solidarität. Ihr Anliegen war und ist es, weltweite Ungleichheit aus Frauensicht zu analysieren und dagegen anzugehen. Heute, vierzig Jahre später, haben die Gründerinnen in diesem Buch zusammengefasst, wo die feministischen Debatten rund um den Globus aktuell stehen – und wie es weitergeht. Dabei thematisieren sie sexualisierte Gewalt genauso wie den Kampf gegen den Klimawandel, reproduktive Selbstbestimmung und Rassismus. Umfassend, klug und international aufgefächert ist dieser Sammelband. Hervorragend finde ich die Kürze der Beiträge, die meisten haben gerade mal drei oder vier Seiten. Das ist genug für einen Überblick und eine Anregung zum Nachdenken, lässt sich immer mal wieder zwischendurch als informative Happen lesen – und gibt gleichzeitig den nötigen Stupser, weiterzuforschen, zu recherchieren, um mehr zu erfahren. 

Die Themen sind vielseitig: das Erbe des Kolonialismus in Afrika, die NATO-Generation in Afghanistan, antiasiatischer Rassismus, Zwangssterilisationen in Peru, Geschlechterpolitik und Körperpolitik, auch über Georgiens Feministinnen wird berichtet, genauso wie über weibliches Gesundheitspersonal in China. Feminismus ist nicht weiß und ist es nie gewesen, das beweist dieser Zwischenbericht sehr eindrücklich. Dies ist für mich eines der besten und wichtigsten aktuellen Sachbücher, und es hat mich – abgesehen davon, dass ich so viel Wissenswertes gelernt habe, das uns nie irgendjemand erzählt, nicht die Schule, nicht die Medien – auch ein wenig hoffnungsfroh gestimmt, weil es beweist, dass sich durchaus etwas bewegt hat in den letzten vierzig Jahren und dass es zahlreiche mutige, intelligente, miteinander vernetzte Kämpferinnen gibt. Und zwar überall auf der Welt.