Bücherwurmloch

„So von außen sieht es schön aus, aber wenn ich einmal hineintrete, entfaltet sich vor mir ein düsteres Labyrinth“

Stine wird in den Achtzigerjahren in einer kleinen ostdeutschen Stadt geboren, dass die Mauer fällt, bekommt sie als kleines Kind mit. Was die Wende für sie, ihre Familie und das ganze Land bedeutet, wird ihr erst in den Jahrzehnten danach klar. Und sie begibt sich auf Spurensuche: Was für ein Mensch war ihr Großvater, gibt es eine Akte über ihn? Wie lässt sich über die Gewalt sprechen, die geschehen ist, wenn das Stillsein das Wichtigste war als Kind? Wie viel Schmerz wird von Generation zu Generation weitergegeben?

„Ich dringe vor in Mutters Kindheit und ich weiß, dass sie mich dort nicht haben will.“ 

Die Ich-Erzählerin, die stellenweise in die zweite Person Singular wechselt, also die Du-Anrede, die stets etwas unmittelbar Hineinziehendes hat, setzt sich mit dem System der DDR auseinander und notgedrungen gleichzeitig mit ihrer Kindheit, eines bedingt das andere, es ist nicht möglich, sie getrennt voneinander zu betrachten. Die Mutter ist dabei als Ansprechpartnerin nicht vorhanden, in dem Gaslighting, das sie betreibt, wird sie zur großen Leerstelle.

„Du suchst nach Worten für etwas, für das du zum Schweigen verdonnert wurdest.“

Für mich als Österreicherin ist die DDR ein faszinierendes Kuriosum, so nah und doch so fern. Alles, was ich darüber weiß, habe ich mir angelesen, in der Schule war das nicht wirklich ein Thema. Sich lesend zu nähern, ist hilfreich und wichtig, und auch wenn ich das mittlerweile oft getan habe, verliert diese Art von Vergangenheitsbewältigung nicht ihre Bedeutung. Ich bin Anne Rabe sehr gern gefolgt auf ihrem detailliert gezeichneten, von allerhand verdrängten Monstern gesäumten Weg zu einem der Traumata der deutschen Geschichte. Ihre Figur ist aufmerksam, wach und versinkt erstaunlicherweise nicht im Selbstmitleid, sondern stellt sich den großen Fragen über die DDR – den eigenen und denen der ganzen Nation. Ein sehr lesenswertes Buch!

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„Und wenn der König sein Interesse verlor, dann hatte sie nichts, wohin sie gehen konnte“

Die Sache ist: Ihr kennt Hrotsvit von Gandersheim mit ziemlich großer Sicherheit nicht. Ihr solltet sie aber kennen. Dass ihr noch nie von ihr gehört habt, liegt daran, dass Frauen im Allgemeinen und schreibende Frauen im Besonderen seit Jahrhunderten ausradiert werden. Dieser Roman beweist, dass das stimmt, denn er erzählt von der ersten deutschen Autorin. Und es tut weh, sich zu vergegenwärtigen, dass sie im 10. Jahrhundert gelebt und geschrieben hat. Wie könnte diese Welt sein, hätten wir nicht von Anfang an Mädchen und Frauen keinen Platz und keinen Wert gegeben, hätten wir ihrer Fantasie und ihren Werken dieselbe Aufmerksamkeit zukommen lassen wie denen von Männern? Wie anders wäre die Geschichtsschreibung, die Gesellschaft? Sarah Raich hat unglaublich intensiv und lange recherchiert. Sie hat sich einer Frau gewidmet, deren Ruf nie verklungen ist, sondern zum Verstummen gebracht wurde. Sie hat über sie und für sie geschrieben. Sie hat ihr Leben zu Papier gebracht und dabei das verwendet, was Hrotsvit selbst vor so langer Zeit unendlich fasziniert hat: Worte.

Wo sind die Statuen, die Hrotsvit von Gandersheim zeigen? Wo sind die Schulbücher, die von ihr berichten? Wo sind die Ehrungen, wenn sich ihr Geburtstag jährt, die Referenzen auf ihr Schreiben? Ihre Erzählung ist ein Vorläufer des Faust-Stoffs. Sie war die erste Dramatikerin des christlichen Mittelalters. Sie war, verdammt nochmal, wichtig. Sarah Raich ist ein herausnehmend guter historischer Roman gelungen, locker und flüssig, der vor dem Hintergrund des Lebens im 9. Jahrhundert ein aufgewecktes Mädchen beschreibt, eine mutige Frau, eine vergangene Zeit – und dabei gleichzeitig wichtige Aufklärungsarbeit leistet. Wie wichtig, das ordnet auch Magda Birkmann im lesenswerten Nachwort ein. Jetzt liegt es an uns, dieses Buch zu lesen, zu verschenken, ihm die Bühne zu verschaffen, die es verdient hat – und Hrotsvit von Gandersheim.

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„Er streicht durch ihr offenes Haar. Sie will schreien“

Anna Maria lebt in der Großstadt, aber jetzt gerade ist sie auf dem Land. Und dort gar nicht unglücklich, auch wenn sie sich bei einem Fahrradunfall den Arm gebrochen hat. Im oberösterreichischen Dorf Engelhartskirchen wohnt sie bei Hannes auf dem Hof. Während er sich um die Kühe kümmert, schließt Anna Maria beim Saufen und Tanzen Freundschaft mit den Frauen. Und stellt sich so manche Frage – warum ist der Vater von Hannes weg? Und was ist mit den anderen Männern? Haben die Frauen in Engelhartskirchen eine ungekannte Furchtlosigkeit und woher kommt die? Die eine oder andere Frage wird Anna Maria durchaus offen beantwortet. Und als dann jemand aus ihrer Vergangenheit auftaucht, gibt es sowieso kein Zurück mehr.

Der Titel von „Männer töten“ ist großartig, er ist provokant, aufmerksamkeitsstark und ungewöhnlich. Bedeutet er Männer werden getötet oder es sind die Männer, die töten? Auf den ersten hundert Seiten geht es erst einmal um das österreichische Landleben. Da kann Eva Reisinger, die bereits mit „Was geht, Österreich?“ meine Heimat chirurgisch genau seziert hat, richtig punkten, die Beschreibungen sind nur allzu treffend. So lebt es sich mitten im Nirgendwo, zwischen Bier, Besamung und Kirchengeläut, und dann sagen die Leute immer „eh schön“. Als dann die Geheimnisse rund um die männlichen Leerstellen gelüftet werden, als dann Männer getötet werden, kommt natürlich ein „eh klar“. Das haben wir schon geahnt, außergewöhnlich ist es trotzdem, und lesenswert auch. Weil die Wut spürbar ist, weil die Wut der Motor hinter dem Roman ist, seine Kreativität sich jedoch ungehindert ergießen darf, und das ist gut so. Geschichten ausdenken, in denen es dem Patriarchat an den Kragen geht. Gegen das System anschreiben, mit aller Kraft. Männer erschießen, Männer erstechen, Männern den Hals aufschlitzen. Wie sie es, und das ist freilich der Clou, umgekehrt mit Frauen tun, jeden Tag, überall auf der Welt. Denn das eine ist Fiktion. Das andere nicht. Eva Reisingers neues Buch sagt: schaut her, hört her, so klingt das dann, so fühlt es sich an, findet ihr das witzig? Eben.

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„Wir alle tragen das Patriarchat in uns“

Wenn ich in Zukunft nach wichtigen, richtungsweisenden Büchern gefragt werde, wird dieses hier ganz oben auf der Liste stehen: Emilia Roig hat darin alles Wissenswerte zu unserem Leben im patriarchalen System versammelt. „Das Ende der Ehe“ hat freilich einen provokanten Titel, der Untertitel federt das perfekt ab: Es geht um eine Revolution der Liebe, um eine Neubewertung dessen, was wir als Familie definieren, und um die Rolle jener Männer, die keine Täter sind, aber immer schweigen. Wie könnte eine solche Revolution aussehen und wie würde sich dadurch die Liebe selbst verändern? Die erfolgreiche Autorin und Aktivistin hat die Dynamik heterosexueller Partnerschaften analysiert und eingeordnet, sämtliche Erkenntnisse übersichtlich und stringent zusammengestellt und sich eingehend mit dem romantischen Skript beschäftigt, dem wir alle – vor allem die Frauen – folgen sollen. Und der Frage, warum das so ist.

„Solange die Ehe die institutionelle Beraubung der Frauen erlaubt, werden Frauen in einer kapitalistischen Welt schlechter aufgestellt sein als Männer. Männer sind reicher als Frauen, weil sie die Frauen kollektiv berauben.“

Wer sich einen umfassenden Überblick über die Mechanismen des Patriarchats wünscht oder ihn jemand anderem bieten will, wer offene Fragen hat oder einfach die großen Zusammenhänge verstehen will, greife bitte zu diesem Buch: Es ist klar, verständlich, enthält einen guten Mix aus Informationen und persönlichen Einblicken, gibt Perspektiven vor für eine mögliche – ehefreie – Zukunft. Wie ist das mit der Last der Verhütung? Lieben Männer Frauen wirklich? Sind Frauen Komplizinnen ihrer eigenen Unterdrückung? Und was hat es mit dem Teufelskreis der Binarität auf sich? Diesen und vielen anderen Themen unserer Zeit widmet sich Emilia Roig in einem bestechend klugen Stil, der ihren Rundumschlag gegen das unterdrückende System sehr lesenswert macht. Große Empfehlung meinerseits!

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„Ach, wie schön wäre die Liebe, wenn man keinen Mann dazu brauchen würde“

Coco Chanel, den Namen kennen wir alle. Er ist eine Marke. Auf der ganzen Welt tragen Frauen Kreationen einer Frau, die „die Mode revolutioniert hat“, wie es oft heißt. „Vom Waisenmädchen, das im Kloster aufwächst, zur erfolgreichen Unternehmerin und Königin von Paris“, so lautet der Klappentext, und da schwingt gleich das Dramatische und Schwülstige mit, das sich auch im Buch findet. Ich muss gestehen: So eine Romanbiografie ist was Wildes. Bei jedem dritten von Coco geäußerten Satz habe ich gedacht: Aber was, wenn sie das nie gesagt hat? Natürlich klingt es gut. Und sinnvoll und passend. Und bestimmt gibt es einiges, das bezeugt werden kann, das notiert wurde, das irgendwo festgehalten ist. Aber da ist schon auch viel Ausgedachtes dabei, und darauf muss man sich einlassen können. Das ist mir manchmal besser, manchmal schlechter gelungen. Ich war neugierig auf dieses Genre und auf das Leben von Gabrielle Chanel, über die ich manches wusste und eigentlich nicht viel. Maxine Wildner hat sich also dieser realen Figur gewidmet, hat sich ihr genähert und aus ihrer Sicht geschrieben. Das finde ich – aus der Perspektive einer Schreibenden – interessant, weil ich mir absolut nicht vorstellen kann, das zu tun. Verschlungen habe ich das Buch so oder so, ich hab es nämlich im Urlaub gelesen, und dafür war es perfekt. Außerdem hat mich dieser Schnelldurchlauf eines Lebens durchaus fasziniert. Wie viel davon ist echt und real? Wie viel ist der Blick der Autorin, die ja vermutlich, auch wenn sie es sicher versucht hat, nicht neutral sein kann? Ein Ereignis bekommt den Wahrheitscharakter, der miterzählt wird. Es lässt sich letztlich nicht greifen, wer Coco Chanel tatsächlich war. Manches mag sie so gedacht und gesagt haben, anderes nicht. Ich fand es jedenfalls gut, mehr über sie zu erfahren – große stilistische Sprünge und biografisch-übergreifende Einblicke darf man sich freilich nicht erwarten. Unterhaltsam ist es allemal.

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„Mir schien, dass sie gewissermaßen ihm selbst die Verantwortung für seine Lage zuschrieben“

Am Rand einer deutschen Großstadt befindet sich ein provisorisches Aufnahmelager für geflüchtete Menschen. Die junge Psychologin, die sich freiwillig meldet, um dort zu arbeiten, ist am Anfang noch voller Idealismus und der Gewissheit, das Richtige zu tun. Schnell stellt sich allerdings heraus, dass sie nur Heftpflaster auf klaffende Wunden klebt, dass sie mit stupiden Regeln reagieren muss auf emotionales Trauma, dass es kein Budget gibt und keine Hoffnung. 

„Also sah ich ihm nur zu, fühlte mich wie eine Voyeurin, da ich ein Leid bezeugte, gegen das ich nichts zu tun imstande war“

Die Autorin Theresa Pleitner ist selbst Psychologin und hat in einer Unterkunft für Geflüchtete gearbeitet. Ihr schmales Buch wirkt an mancher Stelle wie ein Erfahrungsbericht, wie ein Versuch, das Erlebte aufzuarbeiten – und die Frage ist, ob das überhaupt möglich ist. Denn die Dinge, die in diesem Buch und im wahren Leben geschehen, sind nichts anderes als schrecklich. Sinnlos. Furchterregend. Zutiefst beschämend. Theresa Pleitner gibt einen Einblick in den Umgang mit Menschen, die so vieles brauchen und nichts davon bekommen. Sie sind zerbissen von Bettwanzen, sie sind verstört, ihrer Heimat beraubt, voller Angst, sie zerschellen an der Perspektivenlosigkeit, und das Einzige, was passiert, ist, dass sie bei der nächsten Gelegenheit abgeschoben werden. „Über den Fluss“ erzählt aus der Sicht weißer privilegierter Menschen, die sich selbst sehr leidtun, weil sie sich in einer Pattsituation befinden: Sie agieren in einem System, in dem ihnen beide Hände gebunden sind. Sie echauffieren sich über dieses System und die eigene Hilflosigkeit, ohne anzuerkennen, dass sie sehr wohl etwas daran ändern könnten – dass das aber niemand will. Was die Handlung betrifft, ist dieser Roman nicht aufregend, schon am Anfang ist klar, wie er enden wird und was auf dem Weg dorthin gezeigt werden soll. Er könnte schockieren, thematisiert aber zugleich eine gewisse Abgestumpftheit und Gleichgültigkeit, die alles nur noch schlimmer macht. Es tut weh, dieses Buch zu lesen, und das soll es auch.

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„Es ist unsere Sprache, die uns immer wieder abverlangt, uns ins binäre System einzureihen“

„Damit die Zukunft nicht zwangsläufig binär sein muss, muss sich in der Gegenwart ziemlich viel ändern“, schreibt Lydia Meyer im Vorwort zu diesem Buch und zeigt dann anhand zahlreicher Beispiele, wie diese Veränderungen vonstatten gehen sollten und können. Wer dabei nur an Sprache, Gendern und Pronomen denkt, denkt nicht weit genug, denn das binäre System umfasst unsere gesamte Welt, unser Denken, unseren Alltag. Zuerst geht es um Biologismus und die Zweigeschlechterordnung, von der wir nicht erkennen, wie menschengemacht sie ist. Anschließend klärt Lydia Meyer in einer sehr zugänglichen und verständlichen Sprache über das Fehlen von Geschlechtergerechtigkeit und TERFs, gezielte Falschinformationen und das Märchen vom Kinderschutz auf. Essenziell an Büchern wie diesem ist: Sie bieten konkrete Daten und Fakten in übersichtlicher Form, sie sind ein wirksamer Gegenbeweis, der sich zitieren und weitergeben lässt, eine Möglichkeit für Argumentation und Belegbarkeit. Sehr wahrscheinlich lesen Menschen, die an das binäre System glauben, Bücher dieser Art nicht, weil sie ja weiterhin daran glauben wollen. Wir jedoch, die dagegenhalten, die allies sind und diese Aufgabe ernst nehmen, bekommen dadurch das Wichtigste an die Hand, das wir brauchen: Wissen. Lydia Meyer ist selbst nichtbinär und setzt sich seit Langem mit Gender und gesellschaftlichen Normen auseinander, beschäftigt sich in verschiedenen Medien damit und gibt die eigenen Erfahrungen weiter.

„Wir gendern Menschen ständig und stecken sie damit permanent in Schubladen, von denen wir annehmen, dass sie passen. Doch die Auswahl an Schubladen ist sehr begrenzt und unsere Annahmen über andere sind nicht immer korrekt.“

Lest Bücher wie dieses. Do the work. Informiert euch, bildet euch weiter, geht nicht mit Scheuklappen durch die Welt. Es ist sehr wichtig.

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„Ein besserer Gott wird eins alle Frauen als Nixen zur Erde schicken, mit zusammengewachsenen Beinen“

„Sie ist eine Halbfrau, mit Männerseel“, sagen sie über Kazimira, und trotzdem kann sie nicht leben, wie sie gern möchte. Trotzdem muss sie ein Kind kriegen, obwohl sie keins will, muss Frauenarbeit verrichten, obwohl sie gern unter Tage wäre, wie die Männer. Die lösen Bernstein aus der Erde, nachdem ihnen irgendwann in den Sinn gekommen ist, aktiv danach zu suchen und nicht nur zu warten, bis es auftaucht oder angespült wird. Antas, der Vater von Kazimiras Sohn, ist einer der besten Bernsteindreher, die Figuren, die er herstellt, kann er immer gut verkaufen. Wir schreiben das Jahr 1871 und befinden uns an einem abgelegenen Ort am Baltischen Meer. Das Risiko mit der Grube lohnt sich irgendwann, so wie Moritz Hirschberg, Eigentümer der Bernsteinwerke, es sich ausgerechnet hat. Nur werden mit dem Ende des 19. Jahrhunderts im alten Kaiserreich antisemitische und nationalistische Stimmen immer lauter, und es wird immer gefährlicher. Nicht zuletzt für Kazimira, einfach, weil sie ist, wie sie ist.

„Du hast einmal gesagt, du möchtest mehr, als nur einen Ertrag bringen. Du möchtest deinen eigenen Wert.“

Svenja Leiber hat eine Figur geschrieben, die wir ganz automatisch, ohne nachzudenken, eine „starke Frau“ nennen würden. Das ist eine problematische Formulierung, die erstens impliziert, es gäbe auch Frauen, die nicht stark sind, und zweitens, dass Frauen immer eine gewisse Stärke brauchen, um zu überleben in dieser Welt. Viel eher empfinde ich es als tragisch, dass Kazimira all diesen Zwängen unterworfen ist, dass sie keine Alternativen hat, keine Möglichkeiten, und so war und ist es millionenfach der Fall für Frauen in unserem System. Ein wunderbar fein gezeichneter, stimmiger historischer Roman, der auch vom Heute erzählt, sich der Faszination von Bernstein widmet und jenen Frauen, die alles mitbringen für ein Aufbegehren – und die doch untergebuttert werden. 

„Vom ersten Tag an wusste ich, dieses Mädchen ist zu eigen für einen Platz, den unserer Zeit ihm zuweisen will, und ich fürchtete den Schmerz, der ihm begegnen würde und dann begegnet ist.“

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„Deshalb muss man ganz genau hinschauen, will man die Norm selbst erkennen. Und dieses genaue Hinschauen ist das, was gerade passiert“

„Frauen zwischen 15 und 44 Jahren werden eher durch Gewalt ihres Partners getötet oder verletzt als durch Krebs, Autounfälle, Kriege und Malaria – und zwar zusammengenommen.“

Das ist eine der erschütternden Informationen, die dieses Buch bereithält: Und auch, wenn wir den Backlash deutlich spüren, seine Auswirkungen jeden Tag sehen und erleben, ist es hilfreich und wichtig, dass die Zahlen, Daten und Fakten dazu von Susanne Kaiser zusammengetragen und versammelt wurden. Dadurch lässt sich so viel besser argumentieren und klarer sehen. Allerdings ist das, was man dann sieht, ein erschreckender Anblick: Die Gewalt gegen Frauen nimmt zu, je gleichberechtigter sie werden. Das eine steigt gleichzeitig mit dem anderen an, die Autorin nennt dieses Phänomen das „feministische Paradox“. Sie erklärt eingangs genau, wie es zustande kommt und worauf es beruht, und geht im Folgenden auf die einzelnen Auswirkungen des Backlash ein, beispielsweise häusliche Gewalt, die – das fand ich sehr treffend – nicht so euphemistisch umschrieben, sondern einfach männliche Gewalt genannt werden sollte, das Leben im Frauenhaus, Hass im Netz, das Zurückdrängen der Frauen ins Private, wo sie nicht mehr präsent sein sollen und vermeintlich leichter zu kontrollieren und zu unterdrücken sind.

Dieses Buch ist krass und heftig und wahr. Alles, was Susanne Kaiser schreibt, begegnet uns im Internet, in den Medien, im Alltag, in Filmen, Büchern, Serien. Der Hass auf Frauen schwillt in einem Ausmaß an, das alarmierend ist – und trotzdem komplett ignoriert wird. Was das alles mit Männern wie Donald Trump und Andrew Tate zu tun hat, wie die junge Generation gehirngewaschen wird und dass das Patriarchat nicht unsere Vergangenheit, sondern wohl auch unsere Zukunft ist, zeigt die Journalistin und Autorin, die sich seit 20 Jahren mit diesen Themen beschäftigt, auf ebenso fundierte und nüchterne wie eindrucksvolle und niederschmetternde Weise. Ein enorm informatives und desillusionierendes Buch.

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„Das Paradies ist eine Farce und Adam ist ein Feigling. Ich sage es jetzt einfach mal, wie es ist.“

Dies ist ein Ausnahmepost, ich hab ihn nämlich überhaupt nicht vorbereitet. Ich tippe diese Zeilen direkt in mein Handy, zwei Minuten, nachdem ich den neuen Roman von Simone Hirth beendet habe. Sowas tue ich sonst nie. Aber heute will ich meine Begeisterung ganz unvermittelt und sofort mit euch teilen: „Malus“ gehört zu jenen drei Büchern, die in diesem Jahr am meisten mit mir gemacht haben. Die Idee dahinter ist sehr klug: Eigentlich erzählt es etwas, das wir kennen. Ein Scheidungsverfahren. Gewalt. Victim Blaming. Eine Entscheidung über das Kindeswohl. Patriarchat. Aber ein Kniff macht daraus eine ungewöhnliche Geschichte, denn das Ehepaar, um das es geht, besteht aus Adam und Eva. Die Frage, die Simone Hirth stellt, lautet: Kann Eva ohne Adam leben? Darf sie das? Ist ein Neubeginn in Wien Meidling möglich? Und wo ist es schlimmer, im Paradies oder in der echten Welt? Es werden in diesem Roman sehr viele Äpfel gegessen. Und sehr viele Bücher von Frauen gelesen. Es wird geweint und gehofft und zusammengehalten. Es wird gedroht und angezeigt und sich gefürchtet. Es wird deutlich gemacht, dass Frauen, die sich emanzipieren, in jeder Hinsicht abgestraft werden. Alles an „Malus“ ist eindringlich und heftig und wahr. Alles daran ist genial. Mein Lieblingszitat: „Ich sehe alles, flüstert Gott. Dann schau gut zu, flüstert Eva zurück.“ Lest dieses großartige Buch, lest es unbedingt.