Bücherwurmloch

„40 Prozent der Jobs im Niedriglohnsektor werden in Deutschland von Migrant*innen der ersten, zweiten, dritten Generation übernommen“

Betiel Berhe ist studierte Ökonomin und Aktivistin, und sie zeigt in diesem Buch die Missstände unserer Gesellschaft auf. Das tut sie in einem gelungenen Mix aus Daten, Fakten und persönlichen Erlebnissen. Indem sie ihre eigene Lebensgeschichte erzählt und verdeutlicht, wie sie aus welchen Gründen als Kind, als Jugendliche, als Erwachsene behandelt wurde und wird, hinterfragt sie das deutsche Aufsteiger*innenmärchen. Hat sie es „geschafft“ und was bedeutet das überhaupt?

„Denn Menschen werden im Kapitalismus nicht einfach nur für ihr Mensch-Sein anerkannt, sondern sie müssen Waren kaufen und konsumieren, um gesellschaftlichen Status zu erlangen.“

„Nie mehr leise“ ist ein umsichtiges, durchdachtes Buch voll berechtigter Wut. Es ist ein Buch, das den Kapitalismus als das rassistische und klassistische System kritisiert, das er ist. Zum einen ist es unfair, wie wir von Schwarzen und migrantischen Menschen verlangen, dass sie auch noch den Erklärbär spielen, weshalb sie kaum selbst entscheiden können, ob sie Aktivist*innen sein wollen, sie werden dazu gemacht. Wir erzwingen, dass ihre bloße Existenz politisch ist. Zum anderen bin ich aber Schreibenden wie Betiel Berhe dankbar, weil Bücher wie dieses auf den Punkt bringen, was das Problem ist – und wie wir es lösen könnten.

„Diese Untersuchungen zur Psychologie von sozialen Klassen zeigen, dass Menschen aus der Armuts- und Arbeiter*innenklasse tendenziell empathischer sind als Menschen aus der Mittelschicht.“ 

Jetzt kommt es auf euch an, denn wir müssen Bücher wie dieses lesen. Wir müssen sie kaufen, verschenken, darauf aufmerksam machen, ihnen das Spotlight geben, das sie verdienen. Wie wir unser Zusammenleben gestalten, geht uns alle an – und wir können uns nicht vor unserer Verantwortung drücken. 

„Für weiße Menschen der Mittel- und Oberschicht ist die Idee der Intersektionalität eine intellektuelle Herausforderung. Nicht, weil sie weniger intelligent wären, sondern weil sie gelernt haben, dass nur ihre Lebenswirklichkeit gesellschaftlich relevant ist.“ 

Bücherwurmloch

Diese zwei Bücher gehören zu den wichtigsten, die ihr in eurem Leben lesen könnt – und das ist keine Übertreibung. Alles, was mit Sorgearbeit und Pflege zu tun hat, steht in unserer Gesellschaft am Rand, dabei sollte es im Zentrum angesiedelt sein. Sämtliche anderen Strukturen sollten um diese Kerntätigkeiten herum organisiert sein, nicht umgekehrt. Frédéric Valin hat im großartigen Verbrecher Verlag zwei Bücher zu Themen veröffentlicht, über die wir nicht sprechen, deren Relevanz wir jeden Tag wegignorieren, über die wir ein gesamtgesellschaftliches Schweigen ausbreiten, das uns allen schadet und in Zukunft sogar noch mehr schaden wird. In „Pflegeprotokolle“ lässt er jene zu Wort kommen, denen wir nie zuhören: Altenpfleger:innen und Erzieher:innen, Hospizmitarbeiter:innen und Menschen, die Geflüchteten helfen. Er hat vor, während und nach der Pandemie mit ihnen gesprochen und dabei Protokoll geführt. Sie geben Einblick in Berufe und Bereiche, die wir zu wenig kennen – und zeigen, wie diskriminierend und benachteiligend diese Gesellschaft ist. Das ist ebenso hart wie wichtig, und ich bin der Meinung, dass alle, alle darüber Bescheid wissen müssen. Menschen, die Zugang zu Bildung und Ressourcen haben, die weiß sind und cis und able-bodied, schauen auf alle anderen herab und glauben, dass diese Probleme sie selbst nicht betreffen. Das ist so egozentrisch und kurzsichtig, dass es schon lachhaft ist.

In „Ein Haus voller Wände“ berichtet Frédéric Valin dann selbst: Er ist nicht nur Autor, sondern auch Pflegekraft und Betreuer. Sieben Jahre lang arbeitete er in einer Einrichtung mit beeinträchtigten Menschen und erzählt von ihrem sowie seinem Alltag. Von den Mechanismen des Systems, vom Wegschauen, von Macht und Machtlosigkeit. Wir wollen nicht reden über den Tod, über Behinderung und Krankheit, aber wir müssen es tun. Die aktuelle Situation im Gesundheitswesen ist noch viel drastischer, als der Bevölkerung bewusst ist, und sie wird sich in den nächsten Jahren extrem zuspitzen. Lest diese Bücher. Beschäftigt euch damit. Stellt Forderungen, seid laut. So, wie es ist, kann es nicht bleiben.

Bücherwurmloch

„Alles wird immer so viel schlimmer am späten Abend“

Agneta hat eine Tochter, die heißt Tilda. Agneta hat ein Haus, das ihr Vater gebaut hat und das Tilda nicht übernehmen will, weil sie in der Stadt studiert und dort ihr eigenes Leben führt. Agneta hat außerdem einen Freund, denn von Tildas Vater hat sie sich früh getrennt, weil er gewalttätig war, und sie hat ein Geheimnis. Sie ist sterbenskrank, und sie weiß nicht, wie sie ihrer Tochter das beibringen soll. Es ist schwierig geworden, mit ihr zu reden, oder vielleicht war es das schon immer. Agneta überwindet sich, fährt für ein Wochenende zu Tilda, aber auch vor Ort ist es ihr nicht möglich, zu ihrer Tochter zu sagen, dass sie nicht mehr lange zu leben hat.

Die schwedische Autorin Ella-Maria Nutti hat ein tieftrauriges Buch geschrieben – übersetzt von Wibke Kuhn – über Worte, die sich festsetzen im Bauch, in der Brust, im Hals, die es nicht hinausschaffen in die Welt. Weil sie so endgültig sind. Die Idee fand ich gut, den Schreibstil auch, nur bin ich irgendwann müde geworden davon, dass der Roman tatsächlich 200 Seiten lang exakt das behandelt: dass Agneta nicht sagen kann, was sie sagen muss. Recht viel mehr gibt es da nicht, zwar kommt auch Tildas Perspektive immer mal wieder vor, sie heißt dann namenlos „die Tochter“, aber was sie so erlebt, trägt nicht maßgeblich zur Handlung bei oder dazu, dass es überhaupt viel Handlung gibt. Ella-Maria Nutti widmet sich sehr ausgiebig dieser speziellen Sprachlosigkeit, dieser Mutter-Tochter-Beziehung, und auch wenn das vollkommen legitim und schön und wichtig ist, ist es auch am Ende minimal langweilig, um ehrlich zu sein. Es kommt so, wie es kommen muss, das ist sehr erwartbar. Aber vielleicht ist das auch in Ordnung, vielleicht passiert eben, wenn das Leben vorbei ist, nicht mehr viel.

Bücherwurmloch

„Auf sinkenden Schiffen war schon immer gebetet worden“

Die Lehrerin Eva Lohaus macht sich mit ihren Aussagen, dass die Menschen aufhören müssen, Kinder zu bekommen, weil der Planet auf eine Katastrophe zuschlittert, viele Feinde. Befeuert wird der Hass, der ihr entgegenschlägt, auch von einem Interview, das die Journalistin Sina mit ihr führt. Sina versucht selbst seit einiger Zeit, schwanger zu werden – ist sich aber nicht sicher, ob sie das tut, weil sie selbst ein Kind will, oder eher, weil der Mann, den sie liebt, unbedingt Vater werden möchte. Sinas Schwester Mona dagegen hat bereits Kinder – und weiß nicht genau, wie sie ihre Rolle als Mutter und Ehefrau weiter gestalten soll. Eva wiederum zieht wegen der massiven Anfeindungen hinaus aufs Land, wo hoffentlich niemand sie findet, aber da lebt jemand, der auf sie gewartet zu haben scheint.

Verena Keßler hat ein ungemein schlaues Buch über Mutterschaft, die Klimakatastrophe und das Frausein geschrieben. Vier Frauen kommen zu Wort, ihre Geschichten sind miteinander verbunden, und das ist sehr klug gemacht – während des Lesens habe ich begeistert genickt, was den Plot und die Schnittstellen angeht. Es gelingt der deutschen Autorin, deren Debüt für zahlreiche Preise nominiert war, mit ihrem zweiten Roman, auf ihre Themen aus unterschiedlichen Winkeln zu schauen, die einander ergänzen. Ich liebe es, dass nun Räume eröffnet werden für Bücher wie dieses, das zum Nachdenken anregt und deutlich macht, dass es für Frauen nicht den einen richtigen Lebensentwurf gibt. Dass man die Biografien von kinderlosen Frauen und Müttern auch nicht gegeneinander aufrechnen kann, dass keine Summe am Ende dabei rauskommt, dass alles Vor- und Nachteile hat – und jeder Mensch mit Uterus selbst entscheiden darf. Ein hervorragendes Buch, ich hab es wirklich gern gelesen.

Bücherwurmloch

„Nie im Leben würde ein Redskin weiße Schnürsenkel tragen“

Die Geschichte geht so: Heute ist Bey brav. Sie lebt in den Niederlanden, hat einen Mann und einen kleinen Sohn. Aber früher war Bey Bassistin in einer Avantgarde-Band, und sie war verliebt in Iggy. Sie haben wilde Sachen gemacht, ständig auf der Suche nach dem nächsten Exzess, doch dann ist Iggy ins Koma gefallen, und Bey hat das Land verlassen. Dreizehn Jahre später schneit ein Kuvert ins Haus, das für Bey der Anlass ist, sofort nach Deutschland zu fahren, ihren Sohn bei der Nachbarsfamilie zu lassen und sich den Geistern der Vergangenheit zu stellen: Iggy ist tot. Doch bevor er gestorben ist, ist er aus dem Koma aufgewacht. Und es sieht so aus, als wäre das alles nicht mit rechten Dingen zugegangen …

„Punked“ hat mich völlig überrascht: Trotz des kurzen Zitats hinten auf dem Umschlag habe ich nicht erwartet, dass das so ein hartes, thrillermäßiges Buch sein würde. Es geht um Punker, um Nazis, um Kinderschänder, es geht um Missbrauch und Gewalt, Folter und Mord. Wie ein rasanter Film saust der Roman durch die Ereignisse, spitzt sich schnell zu und deckt Dinge auf, die einem den Magen umdrehen. Man muss auf jeden Fall darauf eingestellt sein, dass es grausig wird und krass. Ein bisschen viele Zufälle auch, wie das bei Thrillern eben so ist, dazu ein eingängiger, lockerer Schreibstil, eine schräge Geschichte und klassische Übeltäter. Ich kann mir den Stoff gut als Netflix-Serie vorstellen, untermalt mit dem Punk-Sound der Neunziger. Dreckig, laut, heftig!

Bücherwurmloch

„Ableismus steckt in allem, was unser Zusammenleben bestimmt“

Aus gegebenem Anlass habe ich in letzter Zeit darüber nachgedacht, dass in manche Bücher so ein großes Marketingbudget gepumpt wird, und ihr wisst, was ich meine. Dass es bei diesen Büchern dann kein Wunder ist, wenn sie auf Platz eins der Bestsellerliste landen, und kein Zufall. Dass die Verantwortung dafür bei uns allen liegt, weil wir diese Inszenierungen mittragen. Davon können wir uns nicht reinwaschen, wir sind die Nachfrage. Und der Markt bedient uns, spiegelt uns. Aber was für eine Art Gesellschaft wollen wir sein? Was für ein Leben wollen wir führen? Eigentlich sollten Bücher wie dieses das größtmögliche Budget bekommen, sie sollten wändeweise in Buchhandlungen stehen, Platz im Feuilleton erhalten. Sie sollten gelesen werden, unbedingt.

Hannah Wahl arbeitet beim Unabhängigen Monitoringausschuss zur Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Und dass es so einen Ausschuss gibt, macht deutlich, was wir sowieso wissen: dass diese Rechte nicht umgesetzt werden. Dass überhaupt nichts umgesetzt wird, was echte Inklusion bedeuten würde. Dies ist ein fulminantes, wütendes kleines Buch, das den Finger auf zahlreiche Wunden legt und unsere Scheinheiligkeit offenbart. Hannah Wahl stellt die Frage: Wie sehen Körper im Kapitalismus aus, wie sehen Körper aus, die dem Kapitalismus dienlich sind? Sie zeigt, wie weitreichend die Konsequenzen von Stigmatisierung sind. Und dass wir immer den betroffenen Menschen die Schuld geben statt dem System, das wir damit alle weiter unterstützen. Sie sagt so vieles, das wichtig ist und gehört werden muss. Teilhabe am Arbeitsleben, am Sozialleben, am öffentlichen Raum, an der Gesellschaft zu ermöglichen, ist unser aller Aufgabe. Und wir sollten sie endlich ernst nehmen. 

„Allyship braucht politische, solidarische Substanz und muss an die Substanz der unterdrückten Verhältnisse gehen.“