Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Hundert Tage im Bürgerkrieg von Ruanda
“Mein Land brauchte mich nicht, doch dort, in Afrika, war noch ein Tausendstel meines bescheidenen Wissens ein Reichtum, und diesen wollte ich teilen.” Den Schweizer  Entwicklungshelfer David Hohl treiben große Ideale an. Er geht ihm Jahr 1990 nach Ruanda, um den Menschen dort zu helfen, um etwas zu verändern. Doch schnell steht er vor einer unüberwindbaren Wand aus Bürokratie, Mentalitätsunterschieden, Korruption und Unverständnis. Nichts bewegt sich, ihm ist langweilig, er erkennt die Heuchelei hinter der vermeintlichen Entwicklungshilfe. “Die Hilfsorganisationen waren verrückt nach diesem Land, man trat sich gegenseitig auf die Füße, und es gab buchstäblich nicht einen Hügel ohne Entwicklungsprojekt. (…) Sie waren geradezu süchtig danach, auf der Seite der Opfer zu sein.” Als David sich in die schöne Afrikanerin Agathe verliebt, merkt er, wie hohl all seine Ideale sind. Die beiden können einander nie wirklich nahe kommen, Agathe interessiert sich nicht für Davids Drang, ihrem Land zu helfen – sondern nur für sich selbst. Während sich die Lage in Ruanda plötzlich verschärft, fliehen die Schweizer – doch David bleibt. Rund um ihn beginnt ein sinnloses und grausames Morden, das David nicht versteht und das auf ihn dennoch zutiefst menschlich wirkt. Hundert Tage lang versteckt er sich, hundert Tage lang lauert der Tod vor seiner Tür. Und es ist ungewiss, ob sie ihm helfen werden, wenn sie ihn entdecken …

Hundert Tage ist ein hartes und zynisches Buch über die Ironie hinter der Entwicklungshilfe, über das Bedürfnis der Weißen, eine Erbschuld zu tilgen und sich damit selbst zu helfen. Lukas Bärfuss ist ein gefeierter Schweizer Dramatiker, der es in diesem Roman schafft, den Druck des Pathos zu umschiffen. Er lässt seinen Protagonisten David die Geschichte in der Ich-Form erzählen, er schmückt sie mit bissigen Worten, gescheiterten Hoffnungen und viel Resignation. Diese Gefühle bestimmen auch das stilistische Bild, das mit direkten Formulierungen, sarkastischen Metaphern und authentischer Ehrlichkeit überzeugt. Dass jeder im Ernstfall nur an sich selbst denkt, ist bekannt – und wird hier vom Autor eindrucksvoll geschildert. Die Hauptfigur gerät mitten hinein in einen Krieg, in einen Genozid, über den sich die ganze Welt echauffiert, ohne etwas zu unternehmen. Da keiner der Entwicklungshelfer die Sprache der Einheimischen spricht (!), ist ihr Wissen über sie stets nur zusammengedichtet. Es geht in diesem Roman um Gewalt, um Korruption und Heuchelei. Und um den Versuch, das Leid zu beenden – der letztlich vergeblich ist.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

“The wonders of the world are many, but none so much as man”
Pip ist ein Problemkind. Als Baby schläft sie niemals durch – bis ihre verzweifelten Eltern sie zum Babyschwimmen bringen. Das Wasser sorgt dafür, dass Pip ausgeglichener und ruhiger wird. Und es bleibt ihre gesamte Kindheit und Jugend über das einzige Element, in dem sie sich zu Hause fühlt. Schwimmen ist alles, was Pip will. Während die Familie an zwei schweren Schicksalsschlägen zerbricht, taucht Pip jeden Tag ab. Und das harte Training macht sich bemerkbar: Bald werden Trainer und die Medien auf die talentierte Schwimmerin aufmerksam. Pip bekommt ein Stipendium und erschwimmt sich den langen und anstrengenden Weg zu den Olympischen Spielen. Was das im Alltag für sie bedeutet – kontrollierte Ernährung, absolute Disziplin, kaum Freizeit – und wie Pip schließlich an jenen Punkt kommt, an dem sich ihre Zukunft entscheidet, davon erzählt Nicola Keegan in Swimming.

Für mich war Swimming eine Art Verzweiflungskauf. Mein SuB ging zur Neige, ich stand in der Buchhandlung und fand nichts Interessantes – und der Klappentext hörte sich ganz gut an. Als ich anfing zu lesen, war ich verblüfft über die wunderbare Selbstironie, die Nicola Keegan ihrer Ich-Erzählerin Pip in den Mund legt. “I have seven chins varying in size and volume”, heißt es beispielsweise am Beginn über Pip als Baby, “I am an asshole and I know it”, sagt sie später. Mich fasziniert, wie die Autorin es schafft, die Sportart Schwimmen zum Anker für ein Mädchen zu machen, das in seinem eigenen Leben zu ertrinken droht. Der Tod bleibt der Familie nicht fern, Pips Mutter – die insgesamt vier Töchter zur Welt gebracht hat – ist als Autoritäts- und Vertrauensperson völlig unbrauchbar. Im Prinzip ist Pip auf sich allein gestellt, denn beim Sport herrschen Druck und Konkurrenzdenken, Freundschaft gibt es nicht. Nur im Wasser ist Pip frei. Aber bald wird diese Freiheit überschattet vom Leistungsdruck. Das beschreibt Nicola Keegan sehr eindrucksvoll und glaubhaft. Die Informationen über Schwimmen als Profisport sind gut recherchiert und geben der Geschichte die nötige Substanz. Worum genau geht es in Swimming? Es ist ein Buch über Verlust und Trauer, über die Unfähigkeit, zu kommunizieren, über Leistungssport, Weltrekorde und den eisernen Willen, dem Körper etwas abzuverlangen, das er eigentlich kaum schaffen kann. Ich finde das Thema sehr originell und bin von diesem Roman richtig gefesselt. Pip ist ehrgeizig, einsam und überraschend ehrlich. Das Schwimmen ist ihr Lebensinhalt – und genau das ist zugleich eine große Gefahr. Etwas anstrengend ist der Umgang der Familienmitglieder untereinander, weil die Dialoge in absurde Diskussionen ausarten. Ansonsten aber ist Swimming ein spannendes und lesenswertes Buch, das mit wunderbarem Sarkasmus und Liebe zum Detail begeistert. Pip als Protagonistin ist dabei nicht immer liebenswert. Und deshalb umso authentischer.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Unzufriedenheit als Familienerbe
Das ist ungewöhnlich: Einer stirbt und alle freuen sich. Als Thereses Großmutter Malie das Zeitliche segnet, sind ihre Kinder Ruby und Ib überglücklich. Nur Therese ist traurig, denn sie hat als Einzige schöne Erinnerungen an die exzentrische Frau, die einmal Schauspielerin war, gern trank und schillernde Geschichten erzählte. Einst war Malie das Kind des Dorfwirts, mit 15 schloss sie sich einem fahrenden Theater an. In ihrer Zeit auf der Bühne ließ sie nichts anbrennen – und wurde ungewollt schwanger. Ihren Frust über die aufgegebene Karriere ließ sie den Rest ihres Lebens an ihrem friedliebenden Mann Mogens, einem Blaumaler in der Porzellanmanufaktur, und Tochter Ruby aus, die in ihrer Kindheit viele Schläge und wenig Liebe bekam. Als Ruby selbst ein Kind – Therese – erwartet, gibt sie das Familienerbe der Unzufriedenheit weiter. Erst Therese kann es vielleicht gelingen, diesen Kreis aus Unglück zu durchbrechen – mit ihrem Sohn Stian.

Der Arsenturm erzählt die Geschichte einer Familie aus Norwegen, deren Schmerz in der Vergangenheit wurzelt. Die Ursache für die vielen kleinen Dramen legt Anne B. Radge Schicht um Schicht frei: Jedes Kapitel führt den Leser weiter zurück zu dem, was zuvor geschehen ist. Ausgehend von Therese, der momentan letzten Tochter dieser Familie, verfolgen wir die Generationen bis zu Thereses Großmutter Malie, die eine selbstsüchtige und seelisch verwundete Frau war. Sie liebte die Schauspielerei, denn “wer eine Rolle spielte, durfte dabei Eigenschaften zeigen, die in Wirklichkeit gar nicht vorhanden waren”. Für das Scheitern ihrer Karriere machte sie ihre Tochter Ruby verantwortlich, die ihrerseits das erfahrene Leid weitergab. So entstand ein Teufelskreis aus Ablehnung und Gefühllosigkeit, der auch die Männer in der Familie mit sich riss. Anne B. Radge findet erstaunlich harte Worte für diese Geschichte. Sie zeigt, was für eine Katastrophe eine Schwangerschaft für eine ledige Frau früher war, wie sie sich mit sinnlosen Essigwaschungen und gefährlichen Abtreibungen quälten, und wie es sich auf die Kinder auswirkte, ungewollt und zum falschen Zeitpunkt geboren zu werden. Alle in dieser Familie haben sich einmal etwas erhofft – und niemand hat es bekommen. Der Arsenturm ist ein tragisches, aber unpathetisches und deshalb umso glaubwürdigeres Buch. Stilistisch befindet es sich auf keinem überragenden, aber doch einem annehmbar hohen Niveau. Der Inhalt ist nicht schön. Und hat mich gerade deshalb überzeugt. Sehr gut!

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Eine Jugend in “Fotzenmoor”
“Unser Viertel wurde im Volksmund Vittulajänkkä genannt, was in der Übersetzung Fotzenmoor bedeutet. Der Ursprung des Namens war unklar, kam aber sicher daher, dass hier so viele Kinder geboren wurden.” Wo Matti aufwächst, da gibt es eigentlich so gut wie nichts: ein kleines Dorf namens Tornedal im äußersten Norden Schwedens. Was sich draußen in der Welt tut, davon bekommt hier keiner was mit. Dabei fegen gerade die Sechzigerjahre durch die Musikgeschichte und die Köpfe der Jugend. Bei Matti und seinem extrem schweigsamen Freund Niila ist es aber sehr ruhig. Eindeutig zu ruhig: Deshalb müssen sie sich allerhand ausdenken, um sich die Zeit zu vertreiben. Prügelketten, in die die halbe Verwandtschaft verwickelt wird, zum Beispiel, Wettkämpfe, Luftgewehrkriege – und Musik. Matti kann nicht einmal ansatzweise singen und Niila ist hoffnungslos an der Gitarre, aber voller Leidenschaft für die Musik gründen die beiden trotzdem eine Band. Und die rettet sie durch die Pubertät.

Ich hatte schon viel von Populärmusik aus Vittula gehört und wollte mir mal im Open-Air-Kino den Film dazu anschauen – doch dann hat es geregnet. Als ich das Buch vor Kurzem für ein paar Euro auf booklooker entdeckte, war es endlich mein. Und es hat sich wahrlich gelohnt: Ich hab mich wirklich köstlich amüsiert. Die Geschichte ist derart verquer und liebenswert, dass man einfach mit dem verwirrten, einsamen, pubertierenden Matti mitfühlen muss. Die Freundschaft zu Niila ist sehr ernst, aber frei von Pathos – wie überhaupt der ganze Roman. Niemi lässt die Schweden saufen und bis zum Umfallen saunieren, rülpsen und hart arbeiten, er zeigt ihr Leben als einfach, manchmal beschwerlich, aber immer auch ein bisschen heiter. Seine Sprache ist schnörkellos und rau, es gibt kein literarisches Herumgerede – die Poesie liegt in diesem Fall im Inhalt. Matti ist ein sehr selbstironischer Ich-Erzähler, das ganze Buch über scheint den Leser ein Augenzwinkern zu begleiten. Mikael Niemi ist es gelungen, auf absolut originelle und überzeugende Weise über ein so abgeschmacktes Thema wie Jungsprobleme, Erwachsenwerden und Rock ‘n’ Roll zu schreiben. Wie Matti sich einen Platz in der Horde der stinkenden, ungehobelten Männer erkämpft, wie er mit der Band auftritt und wie er sich Mädchen nähert, ist richtig unterhaltsam.

Und weil’s so schön zum Thema Bücher passt:
“Das Gefährlichste aber, vor dem mein Vater mich aufs Schärfste warnen wolle, der einzige Faktor, der ganze Kompanien armer junger Seelen in den Nebel des Wahnsinns getrieben habe, das war das Bücherlesen. Diese schlechte Angewohnheit war in den letzten Generationen immer übler geworden, und Vater war ungemein dankbar, weil ich selbst bis jetzt derartige Tendenzen nicht gezeigt hatte. Das Irrenhaus war überfüllt mit Leuten, die zu viel gelesen hatten. Einmal waren sie wie du und ich gewesen, körperlich kräftig, ohne Ängste, zufrieden und im Gleichgewicht. Dann hatten sie angefangen zu lesen. Meist aus irgendeinem Zufall heraus. Eine Erkältung mit ein paar Tagen Bettruhe. Ein schöner Buchumschlag, der die Neugier weckte. Und plötzlich war die Unsitte geboren. Das erste Buch führte zum nächsten. Und zum nächsten und wieder nächsten, Glieder einer Kette, die geradewegs in die ewige Nacht der Geisteskrankheit führte. Man konnte ganz einfach nicht aufhören. Das war schlimmer als Drogen.”

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

“In Santo Domingo ist eine Geschichte erst dann eine Geschichte, wenn sie einen übernatürlichen Schatten wirft.” Das kurze wundersame Leben des Oscar Wao wirft gleich mehrere Schatten und sie sind alle verschieden – übernatürlich, zynisch, amüsant und brutal. Oscar zieht mit seiner Schwester und seiner Mutter aus der Dominikanischen Republik in die USA. Er ist fett, ein großer Fan von SciFi, er spricht sogar fließend Elbisch. Kein Wunder, dass er in der Schule nur verarscht wird und keine Freunde findet – geschweige denn ein Mädchen. Und dabei heißt es doch, dass noch nie ein Dominikaner als Jungfrau gestorben sei! Oscar findet in keine Gesellschaftsschicht hinein und hat es durch die Böswilligkeit seiner frustrierten Mutter besonders schwer. Welche Grausamkeiten ihr im Leben widerfahren sind und was sie so verbittert gemacht hat, erfährt der Leser nach und nach. Sie war einmal sehr schön – und lernte dann einen Handlanger von Trujillo kennen …

Dieses Buch ist unfassbar sarkastisch. In einem derben und vermeintlich gefühllosen Ton erzählt Junot Díaz von Trujillos Militärdiktatur, vom Leben der Dominikaner in Terror und Unterdrückung, von ihren Versuchen, sich als “Nigger” in den USA zu integrieren. Dabei findet er harte Worte, die Witze triefen nur so vor Ironie und Boshaftigkeit. Das darf er nur, weil er selbst in der Dominikanischen Republik geboren ist – einem jeden anderen würde man Herzlosigkeit und Rassismus unterstellen. Auf diese Art aber beschreibt der Autor ein Land und ein Volk, das gelitten hat und immer noch leidet. Liebe und Hoffnung sucht man in diesem Roman vergebens. Der Perspektive zu folgen, ist anfangs schwierig, erst nach einiger Zeit stellt sich heraus, wer der wahre Ich-Erzähler ist: ein College-Freund von Oscar und seiner Schwester. Er ist eigentlich nicht abergläubisch, doch am Beispiel von Oscars Familie zeigt er, wie mächtig ein fukú, ein riesengroßer beschissener Fluch, sein kann. Dieser fukú hat Tod und Leid über Oscars gesamte Verwandtschaft gebracht und erwischt – das verrät ja allein schon der Titel – am Ende auch ihn. In zahlreichen Fußnoten füllt Junot Díaz die Wissenslücken des Lesers und erklärt die Hintergründe zu den Ereignissen. Und obwohl ich kein Freund solcher Leseflussunterbrechungen bin, lese ich dieses Mal sogar die Fußnoten genauso sorgfältig wie den Fließtext – weil sie interessant sind und böse. Dieses Buch ist schockierend, wirr, informativ und tragisch zugleich – eine lesenswerte Reise in ein weit entferntes Land, das manche vielleicht aus dem Urlaub, aber vermutlich nicht mit all seinen Schatten kennen.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Formvollendet
Sie kannten sich in ihrer Kindheit: Walter und Alexander. Nun, Jahre später, berichten sie beide aus ihrem Leben: Walter ist der Sohn eines berühmten Architekten, planlos bei seiner Berufswahl, mit dem neuen Ziel, Schauspieler zu werden. Alexander dagegen arbeitet als Altenpfleger, ist mit seinem Leben unzufrieden und hat eine komplizierte Beziehung mit Lydia, die mit allerlei psychischen Problemen kämpft. Und dann gibt es eine Person, die die beiden jungen Männer verbindet: die Therapeutin Valerie. Alexander begegnet ihr über seine Arbeit, Walter soll in ihren Therapiesitzungen bei Rollenspielen auftreten. Das gerät jedoch ein wenig aus den Fugen. Und als Valerie brutal zusammengeschlagen wird, bricht unentwirrbares Chaos aus.

Clemens J. Setz, ein vielgelobter sehr junger österreichischer Schriftsteller, hat es mit Die Frequenzen auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises geschafft. Wie schreibt er also? Gut. Sehr pointiert, mit schönen Formulierungen, auf den Punkt gebracht. Teilweise scheint mir der Stil etwas zu bemüht, da ist er nicht flüssig, sondern wirkt eher so, als hätte der Autor die Metaphern absichtlich gedreht, umgelegt, um sie besonders auffällig und ungewöhnlich machen. Das ist aber nur stellenweise der Fall, grundsätzlich bleiben die Sprachbilder im Rahmen des Vorstellbaren. Was den Inhalt angeht, so wird dieser im zweiten Teil des Buchs immer abstruser. Worum geht es eigentlich? Die Väter spielen eine wichtige Rolle, sowohl bei Walter, der im Vaterschatten steht, als auch bei Alexander, der von seinem Erzeuger verlassen wurde. Dies ist ein Buch über das Vor-sich-hin-Leben, das Planlos-Sein, das Ein-wenig-verloren-Sein. Höhepunkt der Story ist auf jeden Fall der Angriff auf Valerie. Danach gerät der Roman aus den Fugen, als ginge ihm die Luft aus, immer mehr Personen tauchen auf, sogar ein Hund bekommt eine eigene Perspektive, was ich sehr irritierend finde. Es scheint, als habe sich der Autor irgendwie verrannt, das Ende lässt mich eher grübelnd zurück. Das ändert allerdings nichts an der wunderbaren Sprache, mit der Setz wirklich beeindrucken kann.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Ein rasanter Roadtrip mit Schmunzelpotenzial
Herbert Szevko führt ein Leben, das einem Albtraum gleicht: Gemeinsam mit seiner alten Mutter sitzt er jeden Tag in einer heruntergekommenen Tankstelle in einem winzigen Dorf und wartet darauf, dass etwas passiert. Sein Zimmer teilt er sich mit Goldfisch Georg. Außer Herberts epileptischen Anfällen geschieht aber nichts. Gar nichts. Bis am Horizont plötzlich ein klapperndes Fahrrad auftaucht mit einer dicken jungen Frau in einer kurzen engen Hose. Das ist Hilde Matsovsky. Sie lächelt Herbert an. Und Herbert haut es um. Da bleibt ihm eigentlich nichts anderes übrig, als Hilde zu sich zu holen. Beim Schlachtsaufest tanzt er mit ihr und das Glück rinnt ihm oben in den Kragen hinein. Darauf hat Herbert 27 Jahre gewartet. Mit der Liebe hat er keine Übung, und deswegen ist das Zusammensein mit Hilde gar nicht so einfach. Außerdem geraten Herbert, Hilde und die Mutter plötzlich in einen Strudel aus Ereignissen, der sie aus dem Dorf hinaus und in einen riesigen Schlamassel hinein treibt. Und was ihnen dann alles passiert, ist eigentlich unglaublich – und führt beim Lesen garantiert zu Lachfalten.

Die weiteren Aussichten ist ein verblüffend amüsantes Buch über das Leben und das Schicksal, das “… wenn du am allerwenigsten damit rechnest oder wenn du sogar mit überhaupt nichts mehr rechnest, genau dann (…) vor dir steht, dir vor die Füße spuckt und breit lachend zuschaut, wie es dich zerlegt”. Es kommt alles mit einer solchen Regelmäßigkeit anders als gedacht, dass ich bei jeder Wendung angenehm überrascht bin. Und auch wenn die Handlung manchmal abstrus ist, wirkt sie doch immer authentisch durch den ironischen Sprachwitz und die “Matter of fact”-Formulierungen. Von Anfang an kommt mir der Humor sehr österreichisch vor und ich überlege, ob Robert Seethaler Österreicher ist: Mit dem Wort “ungustiös” hat er sich dann eindeutig verraten. Die Geschichte dieses Buchs ist völlig verrückt. Und genau das finde ich wunderbar erholsam: Ich amüsiere mich. Und habe zum ersten Mal seit viel zu langer Zeit wieder Spaß am Lesen.

Die weiteren Aussichten ist originell, wahnwitzig, völlig überdreht, sehr schrullig und auch ein bisschen traurig. Sogar mit dem fulminanten Ende gelingt dem Autor noch einmal ein unerwarteter Überraschungsschlag. Ich mag es, wie er Herbert und Hilde hilflos durch ihre Verliebtheit strampeln lässt, wie er sie durch Missverständnisse entzweit und ihnen das Lieben nicht leicht macht, wie er die lästernden, einfältigen Dorfbewohner schildert und eine gewisse Heiterkeit aufrechterhält, wenn es längst Zeit für Verzweiflung wäre. Aber das Unglück ist eben manchmal komisch. Und das Glück sowieso. Slapstick zum Lesen!

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Wenn die Liebe hereinbricht wie eine Urgewalt

“Er sah sie ganz erschrocken an, und sie erschrak auch.” Als Thomas und Senta sich treffen, wirft es beide aus der Bahn. Es ist ein heißer Sommer: “In der Hitze lösten sich die Konturen auf, da hatten die Körper keine Grenzen mehr. Haut und Luft bestanden aus demselben Stoff, sie rieselten ineinander …”. Plötzlich stehen die beiden einander gegenüber, und es ist ein so normaler Abend, dass sie nicht damit rechnen konnten, dass das Schicksal zuschlagen würde. Dass die Liebe sich nie ankündigt, das ist ihnen wohl bewusst, sind sie doch beide schon über vierzig. Aber eine solche Liebesgewalt haben sie nicht erwartet. Sie saugen sich aneinander fest, können sich nicht mehr trennen. Und müssen einander doch erst kennenlernen: Da tun sich Missverständnisse auf, Erwartungen werden enttäuscht, der Verstand mischt sich ein. Senta ist hysterisch und heult viel, Thomas zeigt sich manchmal unsensibel. Da krachen sie also zusammen, zwei Persönlichkeiten, die einander völlig fremd sind – und doch plötzlich zusammengehören.

Treffen sich zwei ist genau das, was der Titel sagt: ein Buch über eine Begegnung. Es ist mutig von Iris Hanika, einen Roman zu schreiben über die Liebe – über das Banalste und gleichzeitig Außergewöhnlichste, das zwei Menschen passieren kann. Sie tut das auf eigenwillige Weise, mit einem inszenierten, überzogenen Stil, der wild durcheinandermischt, was des Weges kommt: Zitate, Liedfetzen, pseudotherapeutische Einsichten. Teilweise wechselt die Perspektive, wechselt der Stil mitten im Satz. Und ich muss sagen: Das hat was. Es ist originell, es hat Pfeffer, es bewirkt, dass dieses jahrtausendealte Thema nicht langweilig und abgelutscht, sondern neu und amüsant verpackt ist. Hier sagt einmal jemand, wie es wirklich ist: dass der Traummann Makel hat, dass man weinen muss aus Schock über die Liebe, dass man erst einmal überhaupt nicht zueinander findet und Kommunikation fast unmöglich ist. Das ist authentisch, amüsant und lesenswert. Mit so schaurig ehrlichen Beschreibungen wie “Seine Hände hatte er zu beiden Seiten auf das Mäuerchen gestützt. Das wirkte recht unelegant. Und weil er den Kopf zur Seite wandte, konnte sie sehen, daß er überhaupt keinen Hinterkopf hatte” bringt sie den Leser dazu, hämisch zu lächeln. Weil wir eben nicht alle schön sind und perfekt. Weil wir den anderen manchmal komisch und dumm finden, auch wenn wir verliebt sind. Iris Hanika traut sich, ihre Protagonisten zu verarschen, sie in eine Situation zu schmeißen, in der sie hilflos herumstrampeln, und sie dann hemmungslos zu karikieren. Gewürzt mit einer Prise Kitsch ist das eine gelungene Abbildung der Wirklichkeit. Treffen sich zwei ist ein Roman über Angst und Sehnsucht, über Unverständnis und über die Liebe. Die da kommt und uns erschreckt. Einfach so.

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Und dann das Warten auf den Tod
Helmer ist übrig geblieben, er ist die Hälfte eines Zwillingsbrüderpaars. Seit 1967 lebt er ohne sein Ebenbild Henk auf dem elterlichen Hof in der Einöde Hollands. Hier gibt es nichts außer Kühen, Schafen und zwei Eseln. Die Mutter ist vor langer Zeit schon gestorben, und dann verspürt Helmer plötzlich den Drang aufzuräumen. Er verfrachtet den kranken Vater ins Obergeschoß, schiebt ihn ab, am liebsten würde er sich seiner komplett entledigen. Er wartet darauf, dass der Vater stirbt. Doch seine Einsamkeit wird verdrängt, als der junge Henk zum Arbeiten zu ihm auf den Hof geschickt wird. Er ist der Sohn von Riet – der damaligen Freundin von Helmers Bruder …

Oben ist es still ist ein böser, sarkastischer, sehr lebenskluger und unheimlich bedrückender Roman. Hier traut sich einer, nach jenen Gedanken zu handeln, für die andere sich schämen: Er wünscht dem Vater den Tod, er missachtet seine Bedürfnisse, lässt ihn leiden. Das hat natürlich seine Gründe, die der Leser nach und nach erfährt. Es ist ein karges, herbes Leben, das Helmer führt, eines, das er nie geliebt hat. Als der 18-jährige Henk eintrifft, kommt Schwung in die Geschichte – und es entsteht die Möglichkeit, vieles aufzuarbeiten. Ruhig und bedächtig gräbt sich Gerbrand Bakker durch die vielen Schichten dieser Schicksale, die auf den ersten Blick so langweilig wirken und bei genauerem Hinsehen doch so tragisch sind.

“Ich mache schon so lange alles mit halber Kraft”, sagt Helmer, “ich habe schon so lange nur noch einen halben Leib.” In einem sehr klaren, skrupellosen Stil erzählt Gerbrand Bakker von einem Mann, der bereits in jungen Jahren seine Zukunft verloren hat, der sich kaum noch erinnern kann, wie es war, “ganz” zu sein. Das ist deprimierend – aber hervorragend geschrieben. Ein feinsinniger, kluger Roman, der besonders mit einem ausgezeichneten Ende besticht. Lesenswert!

Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Amerika in den Goldenen Zwanzigern
“La donna è mobile, qual piuma al vento …” ist eine bekannte Zeile aus der Oper Rigoletto von Verdi, die Frau wird darin als launisch, als flatterhaft bezeichnet – es ist unmöglich, sie festzuhalten, sie ist wie eine Feder im Wind. Auf Daisy, die Frau, die in F. Scott Fitzgeralds bekanntestem Roman The Great Gatsby im Mittelpunkt der männlichen Begehrlichkeit steht, trifft das zu. Erzählt wird die Geschichte von ihrem Cousin zweiten Grades, einem jungen Mann namens Nick Carraway, der in den Osten zieht und in New York als Aktienmakler arbeitet. In der Villa neben seiner Unterkunft werden allabendlich rauschende Feste mit Musik, Tanz und Alkohol gefeiert: Hier wohnt der reiche Gatsby. Nick lernt ihn kennen und wird Teil der illustren Gesellschaft, zu der auch die golfspielende Jordan Baker gehört, mit der Nick eine Affäre beginnt. Als sich herausstellt, dass Gatsby und Daisy einander kennen, ja, dass sie einander geliebt haben damals, bevor Daisy den grobschlachtigen und reichen Ex-Footballspieler Tom Buchanan geheiratet hat, arrangiert Nick ein Treffen zwischen den beiden. Und ebenso unvorhergesehene wie verhängnisvolle Ereignisse nehmen ihren Lauf …

The Great Gatsby spielt in einer Zeit, in der Amerika wie der Großteil der Welt im Aufbruch war. Der Erste Weltkrieg war zu Ende, neuer Wohlstand wurde geschaffen, die jungen, intellektuellen und vermögenden Leute langweilten sich. F. Scott Fitzgeralds Porträt einer Generation, die nicht viel mit sich anzufangen weiß, gilt als sein “masterpiece”. Der Autor selbst hatte ein bewegtes Leben, das vor allem von der nervenzehrenden Liebe zu seiner Frau Zelda bestimmt war, die mehrere Aufenthalte in Nervenkliniken hinter sich brachte. In der Kürze – das Original hat knapp 140 Seiten – bleibt dieser Roman eher eine Erzählung und geht nicht in die Tiefe, er wartet aber mit überraschenden und durchaus gesellschaftskritischen Geschehnissen und einem Ende auf, das alles zusammenfügt.

Wie Fitzgerald seine angeödeten Charaktere lügen, betrügen, trinken und feiern lässt, ist interessant zu lesen. Sie sind egoistisch und jeder für sich – Daisy, Tom, Gatsby und Nick – nur auf ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse bedacht. Tom und Gatsby buhlen um Daisys Liebe, die seltsam leblos und unberührt vom Leben bleibt, sie ist wie eine schöne Puppe, die man ansehen und nach Belieben anziehen kann, die aber keine eigene Meinung oder eigene Gefühle entwickelt. Sprachlich ist das Buch gelungen und stimmig, stellenweise nicht richtig spannend, dann aber wieder mit guten Teasern und pontierten Formulierungen. Das Ende des großen Gatsby ist tragisch, die Moral gerät ins Wanken, Rache wird verübt – und ob es den Richtigen getroffen hat, mag jeder Leser selbst entscheiden. Unbedingt ist The Great Gatsby ein Buch, das man gelesen haben sollte.