Gut und sättigend: 3 Sterne

Schmitzer„Gletschereis ist hier im Sommer schon lange keines mehr zu sehen“
Eine Fotografin macht sich auf den Weg in die Berge: Für einen Auftrag braucht sie Bilder, die das Schmelzen der Gletscher dokumentieren. Sie fotografiert für eine Umweltschutzorganisation das Heute, damit man es mit dem Gestern vergleichen kann, und trifft auf einen Professor, der seit fünfzig Jahren Messungen durchführt. Anhand seiner Daten und ihrer Bilder wird plötzlich klar: Da ist was faul. Das Schmelzen der Gletscher liegt nicht am Klimawandel allein. Aber was ist hier im Gange? Wer steckt dahinter und was haben die Drahtzieher dieser Verschwörung vor? Und warum musste eine Biologin auf dem Berg sterben? Die Fotografin macht sich auf die Suche nach Antworten – und schwebt bald selbst in größter Gefahr.

Das Setting klingt, als handle es sich bei Die Stille der Gletscher um einen Thriller, doch das ist nicht der Fall. Dazu schreibt die österreichische Autorin Ulrike Schmitzer, die Absolventin der Leondinger Akademie für Literatur ist und bereits zahlreiche Werke publiziert hat, erstens zu gut und zweitens zu ironisch. Es ist ein herrlicher Spaß, wenn der Fun- und Eventmanager der Fotografin die Erlebnismöglichkeiten für die Touristen auf dem Gletscher zeigt, wo es eine venezianische Gondel im Gletschersee und einen Skyglider gibt:

„Wir mussten den Sommer beleben, wenn der Winter wegbricht. Es braucht immer ein Highlight. Wandern ist eine mühsame Angelegenheit. Warum sollen wir dabei zusehen, wie die Gäste zu Fuß auf den Berg gehen, und wir haben nichts davon, haben sich die Bergbahnbetreiber gedacht.“

Vielleicht findet man das nur lustig, wenn man so nah dran ist wie wir Österreicher, wo sich bei uns alles ums Skifahren und um den Tourismus dreht – oder gar so nah wie ich, die ich jahrelang für Kunden wir Kitzsteinhorn Gletscher 3000, die Gasteiner Bergbahnen und den Nationalpark Hohe Tauern getextet habe: Ich habe so viel Werbung gemacht für all diese Events, damit Wanderer, Touristen und Urlauber kommen, um die Sensationen zu sehen, ich fühle mich vom euphorischen Funmanager quasi persönlich angesprochen. Und es ist ein Lachen, das im Hals stecken bleibt, weil das alles – die Bespaßung auf den sterbenden Gletschern, deren Tod wir Menschen verursachen – zutiefst pervers ist.

Einzigartig an Die Stille der Gletscher ist die Mischung aus realer Wissenschaft und fiktiver Geschichte, die Ulrike Schmitzer perfekt beherrscht. Das ist Information und Unterhaltung in einem. Man merkt an der Sicherheit, mit der sie schreibt, dass sie viel recherchiert hat, dass sie sich auskennt. Dem Buch sind zudem echte Fotos beigefügt, die das dokumentieren, was die Fotografin – die namenlose Ich-Erzählerin – mit ihrer Kamera aufnimmt: das Verschwinden des Gletschereises, das Gestern und das Heute. Die Geschichte nimmt rasant an Fahrt auf, ist spannend, bietet eine klassische Verschwörungstheorie, bleibt aber letztlich zu kurz und zu schmal, um wirklich Spannungsliteratur zu sein. Auf gerade einmal 140 Seiten lassen sich nicht mehrere Stränge entwickeln und zusammenführen, aber das ist auch nicht nötig: Das Buch will ja kein Thriller sein. Aufhorchen lassen will es, Interesse wecken, aufmerksam machen auf ein Umweltproblem, das per se unsexy ist: Mit dem Spaß ist es auf den Gletschern nämlich eigentlich vorbei. Davon wollen wir Menschen aber nichts hören, und wir wollen auch nichts dagegen unternehmen. Wir denken, das alles sei Zukunftsmusik, doch in Wahrheit hören wir schon längst das Lied des Todes. Ulrike Schmitzer hat ein kluges, böses, entlarvendes und vorausschauendes Buch geschrieben, das wie Fiktion anmutet – aber wenn sie mir sagte, dass jedes Wort davon wahr ist, dass alles so geschehen ist und geschieht, ich würde es sofort glauben.

Die Stille der Gletscher von Ulrike Schmitzer ist erschienen bei Edition Atelier (ISBN 978-3-903005-25-9, 144 Seiten, 18 Euro).

Gut und sättigend: 3 Sterne

Sujic„E-Mail ist die Geißel unserer Zeit. E-Mail und Krebs“

„Wie erklärt man, wie Verliebtheit beginnt? Es ist ein Zustand, der einen bis ins Letzte durchdringt, sodass man sich fast nicht mehr erinnern kann, wie es sich anfühlt, ohne ihn zu leben. Alles, was ihm vorausging, wird zu einem Weg, der nur dorthin führte.“

Die 23-jährige Alice ist auf der Suche, sie hat eine Leerstelle in sich, eine große Leerstelle, die dort ist, wo eigentlich Familienzusammenhalt sein sollte, Liebe, die eigene Identität. Bei Alice ist da nichts. Sie wurde adoptiert, der Adoptivvater ist unter mysteriösen Umständen gestorben, und nach dem Studium kommt sie zu ihrer Großmutter nach New York, wo sie nichts mit sich anzufangen weiß.

„Mein Gesicht fühlt sich gummiartig an. Entweder ist meine Haut dicker geworden, oder meine Fingerspitzen sind taub. Tief unter meiner Haut, wie ein schmaler unterirdischer Bachlauf, verbirgt sich irgendwo Blut, da bin ich mir sicher. Aber ich fühle mich nicht zu hundert Prozent lebendig.“

Ziellos geht sie durch die Stadt, geht und geht und macht Bilder, und als sie online auf die neun Jahre ältere Schriftstellerin Mizuko stößt, fällt sie hinein in eine ziehende, sich ausweitende, alles übergreifende Obsession. Es gelingt ihr, sich Mizuko im realen Leben zu nähern, und sie hat Glück: Mizuko und ihr Freund, den Alice zufällig kennt, haben sich gerade getrennt, Mizuko braucht Ablenkung, das gefügige, sie anhimmelnde Mädchen kommt ihr gerade recht. Alice macht sich keine Illusionen:

„Sie war meine erste Liebe, doch ich war nicht ihre.“

Ein Großteil des Lebens dieser beiden Frauen spielt sich online ab. Sie haben das Smartphone permanent in der Hand, posten und liken, folgen einander, schnüffeln den virtuellen Spuren der anderen nach, und all das wird noch intensiver, als Alice mit Dwight zusammenkommt, der als Innovationconsultant arbeitet und dessen gesamter Alltag aus Apps besteht. Die Beziehung zwischen Alice und Mizuko ist schwierig, nicht eindeutig sexuell, sehr ungleich, eine Achterbahnfahrt aus Zuneigung, Vertrauen, Missgunst und Hass. Die identitätslose Alice will zu sehr in Mizukos Nähe sein, mehr noch, sie will Mizuko sein. Natürlich ist klar, dass das nicht gut ausgehen kann. Natürlich ist klar, dass es am Ende sehr wehtun wird. Aber sie nimmt das in Kauf für jede Minute, die sie mit Mizuko verbringen kann.

„Meine niedergeschriebenen Gedanken ergeben eine Liebesgeschichte, die zum Großteil ausgedacht ist und aus Erinnerungen besteht, die zum Großteil falsch sind, und die zwischen zwei Menschen stattfand, die fast nie da waren.“

Es gibt im Deutschen den Ausdruck „das Objekt der Begierde“, und auf diese Geschichte passt er: Für Ich-Erzählerin Alice wird Mizuko zum Objekt. Sie möchte sie besitzen, mit ihr verschmelzen. Dazu musste ihr die britische Autorin Olivia Sudjic, die 1988 geboren wurde und als Journalistin unter anderem für die Times schreibt, jegliche Persönlichkeit absprechen, sie zu einer Hülle machen, zu einer Suchenden, Getriebenen. Das finde ich reichlich konstruiert, die Familiengeschichte wirkt eher mühsam, sehr gewollt, Alice ist als Figur leer. Davon abgesehen ist Sympathie – dessen deutscher Titel mir Rätsel aufgibt, bedeutet das englische Sympathy ja Mitleid, was wesentlich passender ist – ein durchaus glaubwürdiges Buch über eine ungesunde Freundschaft, die aus den falschen Gründen eingegangen wird. Sie basiert auf Lügen und Neid, auf dem Wunsch, sich an einem anderen Menschen festzusaugen, sich durch ihn zu verändern, sich an ihm zu erhöhen. Wir sprechen hier allerdings nicht von einer klar definierten erotischen Liebesbeziehung, vielmehr befinden wir uns im schwammigen Bereich zwischen freundschaftlichen und sexuellen Gefühlen, Besitzdenken, Eifersucht, gegenseitiger Manipulation.

Der Guardian hat dieses Buch als „den besten Roman über den Einfluss des Internets auf unser Inneres“ bezeichnet, und das stimmt soweit, weil es solche Romane bisher kaum gibt. Ich finde, das Internet muss hinein in die Literatur. Die Literatur vernachlässigt die virtuelle Welt bisher schändlich, dabei spielt sich unser halbes Leben online ab. In Sympathie hat Instagram eine wichtige Rolle, genau wie der Zugang zum Leben anderer über die Bilder, die sie davon posten, Followeranzahlen, die virtuellen Beziehungen, die Offenherzigkeit, die manchen zum Verhängnis wird. Und wenn wir ehrlich sind: Das ist die Realität. Olivia Sudjic hat nichts davon erfunden, sie hat sich nur als eine der Ersten getraut, davon zu erzählen. Ansonsten scheinen Autoren verschämt zu denken, sie dürften das Internet nur am Rande erwähnen, weil ihre Romane sonst nicht real seien, nicht ernstgenommen würden – abgesehen von Jarett Kobek, aber dessen Buch ist ein ganz anderes Kaliber. Mir persönlich war Sympathie zu verworren, es ist anstrengend, dass die Zeitebenen vermischt sind, dass viel hin und her gesprungen wird, dass die Protagonistin so wahnsinnig passiv ist und sich das Buch zwischendrin mit ereignislosen Passagen sehr zieht – es hat fast 500 Seiten und hätte davon gut einige einsparen können. Dennoch ist dies ein überaus scharfsinniger, wichtiger, intelligenter Roman, der zeigt: Um einander wehzutun, brauchen die Menschen das Internet nicht. Es ist jedoch sehr gut dafür geeignet, jedes menschliche Gefühl noch zu verstärken.

Sympathie von Olivia Sudjic ist erschienen bei Kein & Aber (ISBN 978-3-0369-5757-9, 496 Seiten, 24,70 Euro).

 

Gut und sättigend: 3 Sterne

IMG_3384„Es ist nicht immer klar, wann man die Menschen trifft, die einem am meisten schaden“

„Vermeintlich unbelebte Dinge haben mehr Macht, als die meisten Menschen zugeben wollen. Sie können einen verzehren oder einen befreien. Sie können einen für den Rest des Lebens herabziehen oder, wenn man es zulässt, einem die Bürde des Erinnerns abnehmen.“

Solche Dinge sammelt Cathy, und zwar schon seit ihrer Kindheit: Spielzeugsoldaten, Federn von seltenen Vögeln, Tierskelette. Alles, was eine Bedeutung hat für Cathy, befindet sich in dieser Sammlung, und es passt zu ihr, dass sie in einem Museum arbeitet. Sie ist Konservatorin und soll bei der 200-Jahr-Feier des Museums für Naturkunde in Berlin für ihre Forschung ausgezeichnet werden. Im selben Museum arbeitet auch ihr Verlobter Tom, mit dem sie nicht nur das Berufliche teilt, die beiden sind in enger Liebe verbunden. Doch dann bekommt Cathy ein Päckchen mit einer in Bernstein eingeschlossenen Raubwanze. Das wäre ein schönes Stück für ihre Sammlung, doch Cathy weiß auch ohne Absender, wer ihr die Wanze geschickt hat – und wer sie somit gefunden hat. Jemand aus ihrer Vergangenheit, den sie endlich hinter sich lassen möchte. Jemand, der ihr einst sehr wichtig war und dem viele der unbelebten Dinge in ihrer Sammlung zugeordnet sind. Und der eine Gefahr für sie ist.

Museum der Erinnerung von Anna Stothard, die in Los Angeles Drehbuch studiert hat, hat mich ziemlich überrascht. Es ist nämlich das, was man gemeinhin ein „Frauenbuch“ nennt, und das hatte ich nicht erwartet. Das Cover sieht nicht so aus, und ich kenne Diogenes viel tiefsinniger und literarischer. Damit will ich dieses Debüt nicht schlechtmachen, denn es ist durchaus gut geschrieben. Wer das Seichte, Leichte mag, für den ist dieser Roman sicher ein ganz besonderes Zuckerl. Es ist alles da, was man haben will: Liebe und gebrochene Herzen, eine verrückte Kindheit, intensive Gefühle und spannende Jetzt-tut-er-ihr-gleich-was-Szenen. Gekrönt wird das von einer süßen Dosis Kitsch, die das Zuckerl abrundet wie der Schlagobers den Eisbecher. Die Sache ist die: Hätte ich gewusst, dass dies ein Unterhaltungsbuch ist, das man am ehesten in den Urlaub mitnimmt, hätte ich es nicht gelesen. Aber: Zufälligerweise habe ich das Buch in den Urlaub mitgenommen, und deswegen war es genau das Richtige.

Museum der Erinnerung von Anna Stothard ist erschienen im Diogenes Verlag (ISBN 978-3-257-30048-2, 304 Seiten, 16 Euro).

Gut und sättigend: 3 Sterne

IMG_3381„Es war unmöglich, eine Auszeit von sich selbst zu nehmen“

„Die Klinik war ein Schutzraum, in dem jeder nach und nach begann, sein zugeschüttetes Wesen freizuscharren. Ein gebrochenes Bein oder eine Platzwunde war leichter zu verstehen. Acht Wochen Gips, Pflaster drauf, alles war sichtbar. Die Ursache, die Symptome, auch die Heilung. Psychische Störungen dagegen waren unsichtbar.“

In einen solchen Schutzraum, eine Klinik, begibt sich die junge Juli. Sie hat lange auf den Therapieplatz gewartet und ist fest entschlossen, ihn zu nutzen. Jeden Morgen steht sie pünktlich auf, macht sich auf den Weg zur Klinik, nimmt an den Gruppensitzungen und Aktivitäten teil. Sie trifft dort den attraktiven Philipp, der schizophren sein soll, und die quirlige Sophie, bei der eine bipolare Störung diagnostiziert wurde. Sie alle haben ihr Päckchen zu tragen, jeder für sich, doch dann schweißt ein gemeinsames Erlebnis die drei zusammen, und es wird klar: Das Wochenende, das vor ihnen liegt, das müssen sie einfach zusammen verbringen. Juli, die eine bestimmte Form von Autismus hat, passt das nicht, sie will nachhause, in die Sicherheit ihrer vier Wände, und doch kann sie sich der seltsamen Dynamik, die zwischen ihr, Philipp und Sophie entsteht, nicht entziehen. Nicht einmal, als es gefährlich wird.

Wie verrückt ist verrückt genug? Das ist die zentrale Fragen von Niah Finniks erstem Roman Fuchsteufelsstill. Wer ist noch normal, wer ist es nicht mehr? Und wo genau verläuft die Grenze? Klar wird eigentlich nur, dass das völlig unklar ist. Ist das, was wir Therapie nennen, wirklich hilfreich? Medikamente, die den gesamten Geist auf Standby setzen, Stuhlkreise, Töpfern? Die Autorin, die im neuen Imprint Ullstein fünf debütiert hat, ist noch keine 30 Jahre alt und hat das Asperger-Syndrom. Anders gesagt: Schreib über das, was du kennst – und mit Autismus kennt Niah sich demzufolge aus. Ich war deshalb sehr gespannt auf ihr Buch. Wie würde jemand von Autismus erzählen, der nicht von außen draufsieht? Was für Einblicke würde sie mir geben können, welche neuen Erkenntnisse?

Wenn die Frage lautet, wie verrückt ist verrückt genug, muss ich gestehen, und es ist mir fast ein bisschen peinlich, dass mir Fuchsteufelsstill (wunderbarer Titel übrigens und sehr schönes, von der Autorin selbst designtes Cover) nicht verrückt genug war. Protagonistin Juli hat gewisse Spleens, eine Vorliebe für die Farbe Blau, für Zahlen und für Quantentheorie, sie steckt nicht gern in Menschenmassen, zählt mit, wie weit sie sich von ihrer Wohnung entfernt befindet, und hat Angst vor Nähe. Ist man damit schon nicht mehr normal, ist man damit schon krank? Ich kann das nicht beurteilen, nur denke ich während der Lektüre ständig: Das hab ich so alles schon gelesen. Solche Figuren sind mir bereits oft begegnet. Die leicht Beschädigten. Die, mit denen was nicht ganz stimmt. Die einsam sind und schrullig, die Stimmen hören oder keinen Grund mehr sehen, zu leben. Die überdrehte Sophie entspricht dem Stereotyp einer manischen Patientin, und dann taucht auch ein eiskalter Businesstyp auf, der sich, von Langeweile geplagt, gestörter verhält als unsere drei Klinikhasen zusammen. Klischee, ja, natürlich, und genau das hat mich sehr überrascht, weil ich erwartet hatte, dass eine Autorin, die eigene Erfahrungen einbringt, mit diesen Klischees aufräumen würde. Aber Niah Finnik kann auf jeden Fall sehr gut schreiben. Das ist es auch, was diesen Roman lesenswert macht – das und die Art, auf die er einen nachdenklich stimmt. Am Ende zeigt sich: Wir suchen doch alle eigentlich nur nach der Liebe. Und das ist wahrlich sehr verrückt.

Fuchsteufelsstill von Niah Finnik ist erschienen bei Ullstein (ISBN 9783961010035, 304 Seiten, 14,99 Euro).

Gut und sättigend: 3 Sterne

IMG_3822„Lasst uns auf unsere Freunde trinken und mögen wir alle mehr Freunde haben als Blätter an einem Apfelbaum“

Fünfzig Jahre ist es her, dass die kleine Rike gestorben ist. Dass sie aus dem Kirschbaum gefallen und Blut aus ihrem Ohr geflossen ist. Martina kann das nicht vergessen, und ihre Mutter Elena kann es auch nicht. Jetzt wird Elena 88 Jahre alt, ein rauschendes Fest gibt man ihretwegen, die Polka wird getanzt, der Honigschnaps wird getrunken, aber für Elena ist der Wechsel zwischen Gegenwart und Vergangenheit schon fließend. Für Elena gäbe es noch viel zu sagen, nur hat sie nicht mehr viel Zeit. Aber jetzt, wenn man ehrlich ist, würde sie es wahrscheinlich auch nicht mehr aussprechen, fünfzig Jahre später. Wo doch jeder nur geschwiegen hat über alles, was wichtig war. Tochter Martina über das, was wirklich geschehen ist und was sie über Rike gedacht hat. Enkelsohn Daniel über seine komplizierten Gefühle seiner Freundin Sasha gegenüber. Sasha über das, was sie erlebt hat auf ihren wilden, gefährlichen Reisen in Kriegsgebiete und Ecken der Welt, die gut und gern das Ende sein könnten. Und Anja über das, was sie tatsächlich sucht, wenn sie ihrer kleinen Tochter Schlaftropfen in die Milch gibt, um sie nachts allein zu lassen.

Es ist nicht einfach, den Inhalt von Tina Pruschmanns Debüt wiederzugeben. Das liegt daran, dass es kaum möglich ist, das Buch nachzuerzählen, zu kurz sind die Erzählstränge, zu verwickelt das Gesamtbild. Die Kapitel sind episodenhaft, nicht chronologisch aneinandergereiht, sie hängen zwar zusammen, ja, sie haben teilweise dasselbe Figureninventar, und doch wirken sie mehr wie Interlinking Short Stories denn wie ein Roman. Die Autorin, die Soziale Verhaltenswissenschaft und Soziologie studiert hat, lässt die Handvoll Charaktere, die sie entworfen hat, Banales und Schreckliches erleben, lässt sie sich verlieben, sich trennen, lässt sie lachen, leiden und sterben. Es geht um ihre Schicksalsmomente, um jene Augenblicke, die etwas verändern, sofort oder erst, vielleicht unbemerkt, später. Kurze Einblicke bekommt der Leser in diesem langen Reigen von Mosaiksteinchen aus einer ungefähren Zeitspanne zwischen 2002 und 2015, mit Ausnahmen, die weiter zurückreichen, die Kapitel sind datiert, aber um wen es geht, das muss man herausfinden, indem man liest, sich wundert, grübelt, irgendwann draufkommt. Das ist gut, es ist herausfordernd, anstrengend ist es auch.

Im Klappentext steht „Mit großer Leichtigkeit erzählt Tina Pruschmann von diesen besonderen Momenten, den Lostagen im Leben“ – nein. Leicht ist an diesem Buch gar nichts. Mit bleierner Schwere, müsste es eher heißen, denn Lostage ist unfassbar deprimierend. Obwohl ich das Melancholische liebe, hat dieses Buch mich derart niedergedrückt, dass ich oft tagelang nicht weiterlesen konnte. In seiner Art, eine Familie darzustellen und zu beleuchten, durch das Gesplitterte, Vereinzelte, hat es mich sehr stark an Rabenkinder von Heike Duken erinnert, meinen Favorit für den Blogbuster-Preis. Die Romane ähneln sich sehr, zum Teil im Inhalt, aber mehr noch in der Aufmachung, dem Stil, der Idee, eine Familie nicht über ihren Zusammenhalt zu charakterisieren, sondern über die Erkenntnis, dass jeder für sich bleibt, dass jeder einsam ist, dass die Blutsverwandtschaft nichts weiter ist als ein locker geknüpftes Band, das der Zufall gewebt hat. Tina Pruschmann kann ohne Zweifel herausragend gut schreiben. Sie tanzt mit den Wörtern, sie gibt ihnen Befehle, denen die Wörter widerstandslos folgen. In seiner Gesamtheit ist Lostage komprimierte, elendige, bodenlose Traurigkeit. Es ist ein Buch, das man, um es lesen zu können, in erster Linie aushalten muss.

Lostage von Tina Pruschmann ist erschienen im Residenz Verlag (ISBN 9783701716807, 224 Seiten, 22 Euro).

Gut und sättigend: 3 Sterne

Zwicker„Manchmal würde ich auch gern die Erinnerung verlieren“

„Die meisten sehen es falsch. Sie glauben, die Alten würden abgehängt. Sie glauben, die Alten verlören den Anschluss, weil der Zahn der Zeit ihre Geister und Körper daran hindert, mit dem rasenden Fortschritt mitzuhalten. Das stimmt aber nicht. Der Fortschritt gestaltet nur die Kulisse. Und in diesem ewigen Trauerspiel liegen die Alten immer voran.“

Kehr ist alt, und viel, das ist ihm klar, wird nach dem Tod seiner Frau nicht mehr kommen. Er gibt vor, senil zu sein, an Demenz zu leiden, damit seine Familie ihn ins Pflegeheim bringt. Dort, so stellt er es sich vor, wird er ein ruhiges Leben haben in seinen letzten Jahren. In Wahrheit ist es jedoch anstrengend, den Demenzkranken zu spielen, herumzuschreien, in die Hose zu machen und vor allem kein Wort mit seiner geliebten Enkelin Sophie zu sprechen. Es bricht ihm das Herz, dass er so tun muss, als würde er sie nicht kennen. Sie ist die Einzige, die ihn besucht, die Einzige, die er liebt. Kehr rechnet ab mit dem Leben, mit seinen Fehlern und Verlusten, er beobachtet die anderen Pflegebedürftigen, manchmal spielt er ihnen Streiche. Und er büxt gern aus, aber nur, um sich vorn an der Ecke beim Türken was zu kaufen. Dann kommt seine Jugendliebe Annemarie in dasselbe Pflegeheim, und Kehr merkt, dass er sich mit seinen Lügen und Täuschungen in die Ecke manövriert hat, dass er sich nur noch im Kreis dreht.

Frédéric Zwicker hat als Zivildiener in einem Pflegeheim gearbeitet, und das merkt man seiner Erzählung an: Hier schreibt einer, der genau weiß, was Sache ist. Er berichtet über die Arbeit der Pfleger, über das Verhalten der zu Pflegenden – man möchte sie fast Insassen nennen, haben sie doch keinen Weg in die Freiheit mehr – und über den Alltag in einem solchen Heim. Was zuerst nach einer guten Idee klingt, einen alten Mann dort hinzubringen, der nur vorgibt, dement zu sein, der im Heim beobachten und entlarven, Schabernack treiben und den Leser unterhalten kann, stellt sich im Laufe des Romans als Spiegeltrick heraus. Es scheint, als habe der Protagonist eigentlich nur sich selbst getäuscht. So ganz, das muss ich gestehen, begreife ich nicht, warum er das tut. Weshalb lässt er sich einliefern, sich seiner Freiheit berauben, obwohl es nicht nötig wäre? Wieso verletzt er seine Enkelin derart tief, gibt vor, sie nicht zu erkennen, obwohl er sie so sehr liebt? Und warum gibt er seine Tarnung nicht einmal dann auf, als seine große Liebe Annemarie vor ihm steht? Ich hab mich gefragt, ob er vielleicht nur denkt, er sei nicht dement, und es in Wirklichkeit aber ist, nur: Das kommt mir dann doch zu kompliziert vor. Oder bedürfte zumindest einiger Erklärungen, die es nicht gibt.

Das ist die Schwachstelle an diesem Buch, das Unerklärliche, Fragwürdige, ansonsten ist es gut geschrieben, sehr authentisch, in Eigenerfahrung recherchiert und originell. Wer es liest, wird – vermutlich nicht zum ersten und nicht zum letzten Mal denken –, dass er als alter Mensch hoffentlich nicht in einem Heim landen wird. Das Erste, was einem an der Tür abgenommen wird, scheint die Würde zu sein. Ein lesenswerter, aber wahrlich kein herausragender Roman.

Hier können Sie im Kreis gehen von Frédéric Zwicker ist erschienen bei Nagel & Kimche (ISBN 978-3-312-00999-2, 160 Seiten, 20 Euro).

Gut und sättigend: 3 Sterne

KnechtAch, die Frauen! Immer wollen sie was.
Und vor allem wollen sie was von ihm, Viktor. Es ist halt schon anstrengend, wenn man so ein Frauenmagnet ist wie er, erfolgreich, charmant, ein Hengst im Bett, einer von denen, die viele Eisen im Feuer haben. Sein Handy steht nie still, und er muss aufpassen, dass die vielen Nachrichten, Mails und Anrufe nicht von der einen gesehen werden, mit der er vorgeblich monogam lebt: Magda, die Mutter seiner Kinder. Wenn die wüsste, was Viktor wirklich treibt, dann wär die Kacke am Dampfen. Er ist ein Fixpunkt im Wiener Kulturkreis, er leitet ein Theaterfestival, scheucht Schauspieler herum, trinkt ein Glaserl mit wichtigen Leuten, zieht ein Naserl mit wichtigen Leuten, man kennt das ja. Schon sehr lang hat Viktor was mit Josi, mit ihr ist es unkompliziert, sie hat selbst zwei Kinder und vögelt ihn, wann es grad in ihren Zeitplan passt. Mit Helen hat Viktor auch was, die ist eigentlich eine Freundin der Familie, verheiratet mit dem alkoholkranken Paul, eine wunderschöne Frau, viel zu schön für Viktor, aber sie gibt sich eben zufrieden. Dann sind da aber noch Frauen, mit denen ist es für Viktor viel komplizierter. Mit denen hätte er, vernünftig betrachtet, wirklich nichts anfangen dürfen. Weil die ihm vielleicht irgendwann doch zum Verhängnis werden.

Doris Knecht ist eine bekannte österreichische Autorin und Kolumnistin. Ich hab bisher alle ihre Bücher gelesen – was bei meinem Nur-ein-Buch-pro-Autor-Spleen etwas Besonderes ist – und erst letztens den großartigen Film Gruber geht mit Manuel Rubey, für den ich heimlich schwärme, angeschaut. Doris Knecht schreibt genial böse, sarkastisch, entlarvend, österreichisch, witzig. Ich liebe ihre Bücher, und doch muss ich sagen: Alles über Beziehungen – von dem ich aufgrund des Titels erst dachte, es handle sich um ein Sachbuch – ist nicht ihr bester Roman. Wald ist weitaus grandioser, genauso Besser. Für ihren neuesten Clou hat sie einen Protagonisten erdacht, der als Figur so kurios ist, dass es für ein ganzes Buch reicht: Einer, der bescheißt, einer, der sich selber geil findet, in Wahrheit an tiefen Selbstzweifeln leidet, einer, der ein so großes Ego hat, dass nichts, aber wirklich gar nichts, daneben Platz hat. Viktor gehört zu jenen Männern, die permanent Bestätigung durch Frauen brauchen – und sie sich auch holen, obwohl sie eine feste Partnerin haben. Wir alle kennen diese Männer, und Doris Knecht hat ihre Eigenheiten, ihre Denkweise, ihr verrücktes Verhalten und ihre noch verrückteren Selbstrechtfertigungen bestens eingefangen. Trotzdem hätte ich mir für das Buch eine Handlung gewünscht. Denn wenn man ganz genau hinsieht, stellt man fest: Es hat keine.

Der gesamte Roman zieht sich über einen einzigen Tag und folgt Viktor bei allem, was er tut. Das ist nicht viel, denn in erster Linie sind wir in Viktors Gedankenwelt unterwegs. In der Welt, die er sich aufgebaut hat, um das ständige Lügen und Betrügen mit seinem Gewissen zu vereinbaren. Zweimal wechseln wir zu Frauen, erfahren kurz, wie sich das Ganze aus ihrer Perspektive darstellt, wie sie Viktor sehen – von Josi und Helen. Das ist natürlich erheiternd, zeigt, wie Viktor von seinen Betthäschen wahrgenommen wird, war mir aber zu kurz. Warum nur für ein paar Seiten in die Sicht der Frauen springen, warum das nicht vertiefen? Und wieso sind es nur zwei seiner vielen Weiber, was ist mit all den anderen? Das hat sich für mich unausgegoren und halbherzig angefühlt. Ein weiterer Kritikpunkt ist der Ton, der mir an sich gut gefällt, ich mag das Bissige, das Zynische, aber: Irgendwann war es mir zu viel. Es ist, als würde man an einem Tisch sitzen in geselliger Runde, und einer muss permanent lästern. Er zieht über die anderen her, er kotzt sich aus, er erhöht sich selbst, kann nichts ohne gehässige Ironie sagen. Es kommt der Moment, da erträgt man diesen Jemand nicht mehr. Im Fall von Alles über Beziehungen ist natürlich die Autorin die, die sich über ihre eigene Figur lustig macht. Zu Recht! Aber das zu lesen, ermüdet auch. Und es ist zu einseitig. Im Vergleich zu Gruber geht, dessen Protagonist auch einer ist, über den man sich lustig machen könnte, der dann aber so viel an Tiefe gewinnt, bleibt der neue Roman sehr flach. Wer daher noch nichts von Doris Knecht kennt, sollte unbedingt zu einem ihrer anderen Bücher greifen. Oder auf das nächste warten, vielleicht wird es wieder besser. Ich werde es auf jeden Fall trotzdem lesen.

Alles über Beziehungen von Doris Knecht ist erschienen im Rowohlt Verlag (ISBN  978-3871341687, 288 Seiten, 22,95 Euro).

Gut und sättigend: 3 Sterne

Albert„Und das Herz rollt sich ja auch nicht zum Sterben ein, es will immer noch und will und will“
Es war nur ein Schnitt, doch für Ari war es ein tiefer Einschnitt: Vor einem Jahr wurde ihr Sohn Walker per Notkaiserschnitt aus ihr herausgeholt, und damit kommt sie nicht klar. Sie fühlt sich wie eine Versagerin, sie fühlt sich vergewaltigt. An manchen Tagen ist sie schwer depressiv, mit ihrer feministischen Doktorarbeit geht nichts weiter, obwohl sie Walker zur Tagesmutter bringt, und das Muttersein macht ihr generell zu schaffen:

Wieder ein Tag vorbei, okay, ich kapier’s, ich hab’s kapiert: Ich bin vorbei. Mich gibt es nicht mehr. Daher die uralte Übereinkunft, dass Kinderlose nicht die Voraussetzung mitbringen, sich mit religiöser Mystik zu befassen. Daher die weitverbreitete Überzeugung, Kinderkriegen sei der Expresszug zur Erleuchtung. Es gibt Meditation, Medizin, Peyote in der Wüste bei Sonnenaufgang und die Selbstopferung, und dann gibt es noch das Kinderkriegen, damit kann man auch verschwinden.

Verheiratet ist Ari mit dem gutmütigen, harmlosen, spießigen Paul, der sie, so gut er kann, unterstützt. Sie liebt ihn, obwohl er langweilig ist, fühlt sich aber eingesperrt in der Monogamie:

Die Ehe ist hart. Man muss sich rund um die Uhr bemühen, sich von seiner besten Seite zu zeigen. Der grausige, jämmerlche, verlogene Sack Scheiße, der man eigentlich ist, muss täglich niedergerungen werden.

Dann zieht im Haus nebenan die bekannte und hochschwangere Rocksängerin Mina ein, und Ari findet eine Verbündete. Doch die Frage in Aris Doktorarbeit wie in ihrem Leben ist: Können Frauen wirklich Freundinnen sein?

Elisa Albert macht’s derb. Sie scheut Tabuthemen nicht, im Gegenteil: Sie stürzt sich hinein. Und dann wühlt sie so richtig darin herum. In ihrem Roman Das Buch Dahlia nahm sie eine Krebserkrankung auseinander und beschäftigte sich eingehend mit dem Schrecken dieser Krankheit. In Ein Schnitt – dessen deutschen Titel ich genial finde – widmet sie sich mehreren Themen zugleich: dem Muttersein, dem Frausein, der Beziehung zwischen Frauen und Männern, der Beziehung zwischen Frauen und Frauen. Für alles, was gesagt wird, findet Protagonistin Ari harte, stark tabuisierte Worte, beispielsweise:

Ich hatte schon immer Mühe, zwischen Leuten zu unterscheiden, die mich hassen, und Leuten, die mich ficken wollen. Weil es da nämlich, wie mir irgendwann dämmerte, oft erhebliche Überschneidungen gibt.

Wer, wie ich, kein Problem mit einer so derben Sprache hat, wird nicht gleich verschreckt sein, aber: Auf Dauer ist das sehr anstrengend zu lesen. Ari ist eine Bitch. Sie lästert über jeden, am liebsten über andere Frauen, und hier beißt sich die Katze in den Schwanz: Für ihre Doktorarbeit beschäftigt Ari sich mit der Tatsache, dass Frauen einander die größten Feindinnen sind, sich gegenseitig manipulieren und es nicht schaffen, sich gegen die Männer zu behaupten, weil sie nicht zusammenhalten. Der Witz ist: Ari ist für ihre eigene Theorie der beste Beweis. Und das macht sie als Person schwer erträglich, genau wie das gesamte Buch. Es ist lustig, ja, schonungslos, ehrlich, entlarvend, aber es ist auch eine einzige, alles umfassende Hasstirade.

Ein Schnitt von Elisa Albert ist erschienen bei dtv (ISBN 978-3-423-26090-9, 216 Seiten, 15,90 Euro).

Gut und sättigend: 3 Sterne

Schomburg„Wenn man einmal was erzählt hat, dann ist es da“
Es gibt ja vieles, das scheiße ist, wenn man siebzehn ist. Die Erwartungen der Eltern zum Beispiel. Die Zukunft, die wechselweise wie eine Drohung oder eine Verheißung aussieht. Und in den besten Freund verliebt zu sein. Johanna steht auf Boris, aber Boris ist unglücklicherweise mit Ana-Clara aus Portugal zusammen. Johanna und Boris hängen immer zusammen ab, und sie küssen sich fast, aber sie küssen sich eben nicht, und abgesehen davon, dass Johanna darunter leidet, kann sie es auch nicht verstehen. Was findet er an Ana-Clara, die nicht mal hier ist? Und wieso will er sie, Johanna, nicht? Diese Fragen rücken allerdings in den Hintergrund, als Boris verschwindet und einen Brief hinterlässt, der Johanna sowie seine Familie in Panik versetzt. Die viel wichtigere Frage ist jetzt: Wo ist er? Und: Können sie ihn finden?

Jan Schomburg ist Regisseur, Drehbuchschreiber und Autor, dies ist sein erster Roman. Ich wusste nicht, dass es sich dabei um ein Jugendbuch handelt bzw. um ein Exemplar aus jener neuen Gattung, in der uns Jugendbücher als Erwachsenenromane verkauft werden und man sie erst als das erkennen kann, was sie sind, wenn man sie liest. Young Adult nennt sich das und Coming of Age. Ich war überrascht, und nun ja, nicht auf sehr positive Weise, weil ich Jugendbücher nicht sonderlich mag. Ich finde, dass sie sich fast immer anhören wie das Tagebuch eines Pubertierenden, das er später nur mit Unbehagen selbst lesen würde.

„Das Tolle an der Schule ist doch, dass man sich mit Menschen auseinandersetzen muss, mit denen man sonst niemals was zu tun hätte“, sagt meine Mutter manchmal, wenn ich über Babette oder Marcel oder irgendjemand anderen rede, der was besonders Idiotisches gemacht oder gesagt hat. Ich kann nur die Augen verdrehen bei sowas. Das ist so die Art von Aussage, die man echt gar nicht gebrauchen kann. Das ist so, als würde man gar nicht jetzt leben, sondern nur für später, wenn man die Erfahrung vielleicht mal für irgendwas gebrauchen kann.

Das ist mir stets eine Spur zu banal und gleichzeitig eine Spur zu pathetisch. Aber: Dafür, dass ich den weinerlichen Ton von Siebzehnjährigen nicht ausstehen kann, ist Das Licht und die Geräusche überraschend erträglich. Jan Schomburg hat Talent, er hat Einfühlungsvermögen, und er vermittelt diese wirre Emotionswelt, in der Teenager sich befinden, auf authentische Weise. Zwar macht Johanna ständig Dinge, die ich nicht im Geringsten nachvollziehen kann, ihr Leben dreht sich um Mobbing, Klassenkameraden, ihre Verliebtheit und erste sexuelle Erfahrungen, die auf merkwürdige Art aus dem Ruder laufen. Vielleicht bin ich einfach schon zu weit weg von dem, was Siebzehnjährige bewegt. So oder so: Jugendbücher mag ich immer noch nicht. Aber es hätte schlimmer sein können.

Das Licht und die Geräusche von Jan Schomburg ist erschienen im dtv (ISBN 978-3-423-28108-9, 20 Euro). Ähnlich wie ich sieht das übrigens Tobias von Buchrevier.

Gut und sättigend: 3 Sterne

PasztorBegleitschreiben eines Sterbeprozesses
Fred ist einer von denen, die alles richtig machen wollen und dabei das Meiste falsch machen. Er ist alleinerziehender Vater, sein Sohn Phil ist 13, sehr klein und schreibt heimlich Gedichte. Die Mutter hat die beiden verlassen und schickt nur sporadisch Pakete mit esoterischen Heilmitteln, die Phil nicht öffnet, oder universelle Engelenergie übers Telefon. Nun hat Fred eine Ausbildung zum Sterbebegleiter gemacht – und der erste Mensch, dem er ehrenamtlich beistehen soll, ist Karla. Sie hat Krebs im Endstadium und nicht mehr viel Zeit, und sie ist allein. Fred bemüht sich, aber seine ersten Begegnungen mit Karla verlaufen nicht gut. Sie verlaufen sogar derart schlecht, dass Karla ihn nicht mehr sehen will. Nur Phil darf noch zu ihr – um ihre Bilder, ihren Nachlass zu dokumentieren. Doch Fred, der alles richtig machen will, kann das nicht auf sich sitzenlassen.

Ich kenne Susann Pásztor von ihrem sehr guten Debüt Ein fabelhafter Lügner. In ihrem dritten Roman beschäftigt sie sich mit einem Thema, mit dem sie sich auch aus eigener Erfahrung gut auskennt: Sie ist seit Jahren als ehrenamtliche Sterbebegleiterin tätig. Dafür zolle ich ihr größten Respekt, denn ich finde den Mut, den sie dafür aufbringt, die Nächstenliebe, die Aufopferung sehr bewundernswert. Ihr Romanheld Fred ist so einer, der meint es gut. Der ist dick und sympathisch, unbeholfen und fantasielos, nicht sehr gewitzt, aber er gibt sich Mühe. Dass er bei Karla auf Granit beißt, dass es keine rührseligen Hollywood-Momente und keine tränenreichen Versöhnungen gibt, macht diesen Roman interessant. Dass es aber sonst auch nicht viel gibt, macht ihn ein bisschen langweilig.

Ich gestehe es: Zwischendrin hab ich nur quergelesen und die Seiten überflogen. Ich mochte Fred und Phil ganz gern, konnte mit Karla wenig anfangen, aber das macht ja nichts – und hab lange auf etwas gewartet, das bleibenden Eindruck hinterlässt. Vielleicht ist das die Botschaft: dass da nichts ist. Dass ein Leben, wenn es zu Ende geht, einfach verlischt, still, unspektakulär, fast schon unbemerkt. Freilich ist das reichlich deprimierend. Es ist auch menschlich und authentisch – nur für einen Roman, der aus der Masse heraussticht, hätte ich mir dann doch deutlich mehr Bewegung gewünscht. Vor allem auch in Bezug darauf, dass der Sterbeprozess ein Tabuthema mit viel Potenzial ist. Und dann steht einer auf und öffnet das Fenster ist ein gut geschriebenes, gefühlvolles, nur leider ein wenig fades Buch.

Und dann steht einer auf und öffnet das Fenster von Susann Pásztor ist erschienen bei Kiepenheuer & Witsch (ISBN 978-3-462-04870-4, 288 Seiten, 20 Euro). Isabel Bogdan sieht das übrigens nicht wie ich, sie fand das Buch sehr gut.