Für Gourmets: 5 Sterne

„Zuneigung ist etwas Vergängliches“
Ein Schiff läuft aus, ein Walfangschiff, und an Bord sind Männer, die hart und rau sind wie die See, zu der sie fahren. Und wenn jemand keine Skrupel hat, Tiere zu töten, Robben zu erschlagen, dass das Blut nur so spritzt, einen Wal zu jagen, dieses große, sanfte, wunderschöne Wesen, wie ist es dann in Bezug auf Menschen? Hält ihn dann etwas davon ab, auch einen Menschen umzubringen, ist da noch eine Hemmschwelle? Henry Drax ist Harpunierer, ein undurchsichtiger Mann, der nicht viel redet. Patrick Sumner ist Arzt, und die Geschichten, die er über seine Vergangenheit erzählt, sind wohl nicht wahr. Zwischen diesen beiden Männern entspinnt sich ein Konflikt, der seinen Höhepunkt in einem Verbrechen findet, das auf dem Schiff geschieht. Auf dem Schiff, das sich mitten in der Kälte befindet, in einer unwirtlichen Gegend, auf Expedition zum Töten von Tieren – aber auch ein Mensch kommt dort schnell um.

„Dieses Buch ist so krass“, haben sie gesagt, „fast schon grenzwertig.“ Und ich hab mir gedacht: Aha, aha, mal sehen, da bin ich ja gespannt. Und dann les ich es und es ist wirklich krass und es ist wirklich grenzwertig, aber es ist auch so gut. In Nordwasser bedient Ian McGuire sich einer Sprache, die so ist wie seine Männer: schonungslos, rau, direkt, ohne Poesie. Er beschreibt die Ereignisse so nüchtern, so klar, dass ich das Gefühl habe, ich stehe daneben, ich bekomme das unmittelbar mit, ich sehe das vor mir. Und es ist nichts Schönes, was ich da sehe, im Gegenteil, es sind schreiende, verendende Tiere, es sind Menschen, die einander hintergehen und verraten, es ist Dreck und Blut und das unerbittliche Meer. Es riecht nach Schweiß und Kotze, nach ungewaschenen Körpern, nach Angst.

Natürlich kommen ihm die Lügen mühelos über die Lippen. Worte sind nur Geräusche in einer bestimmten Reihenfolge, und er kann sie gebrauchen, wie es ihm gefällt. Schweine grunzen, Enten quaken, Menschen lügen, so läuft das für gewöhnlich.

Ich mag Bücher, die am Meer und auf dem Meer spielen. Ich mag es wild und schnörkellos, am liebsten mitten ins Gesicht. So ist dieses Buch. Es erinnert mich in seiner Ausweglosigkeit an Ins Westeis von Tor Even Svanes, über das ich geschrieben habe: Habt ihr schon mal ein Buch gelesen, das von der ersten bis zur letzten Seite aus Beklemmung bestand – in Worte gegossen? Dasselbe könnte man über Nordwasser sagen, weil man ja schon weiß, dass da nichts Gutes kommen kann, dass die Ausgangssituation – Männer ohne Gewissen zusammengepfercht auf einem Schiff, von dem niemand flüchten kann – geradezu danach schreit, dass etwas Grausames geschieht, weil das alles beklemmend ist, und dann ist man trotzdem überrascht. Was da geschieht. Und wie grausam es ist. „Dieses Buch ist so krass“, möchte ich euch sagen, „fast schon grenzwertig.“ Lest es, lest es unbedingt!

Nordwasser von Ian McGuire ist erschienen im mare Verlag (ISBN 978-3-86648-267-8, 304 Seiten, 22 Euro).

 

 

 

Für Gourmets: 5 Sterne

IMG_9697„Ich fing an, sie zu hassen. Ich fing an, sie zu lieben“

Aber was ist mit seinen Töchtern?, fragte ich mich. Was hat Gott mit seinen Töchtern gemacht?

August ist in Brooklyn, mit ihrem Vater, mit ihrem Bruder, einzig die Mutter fehlt, und August wartet. Überzeugt davon, dass die Mutter wiederkommen wird, morgen und morgen, überzeugt, dass alles sich ändern wird. Die Hitze, das Fremdsein, die aufkeimende Pubertät, die so verwirrend ist. Doch in Wahrheit ändert sich nichts, nur der Vater hat neue Frauen, nur die Kinder werden größer. Angela, Sylvia und Gigi werden Augusts Freundinnen, jede auf ihre Art angeknackst, noch nicht zerbrochen, und doch sind die Risse in ihren Fassaden schon erkennbar.

Wir trugen Rasierklingen in unseren Kniestrümpfen und ließen uns lange Fingernägel wachsen. Mit der Zeit bewegten wir uns auf den Straßen Brooklyns, als wären wir nie woanders gewesen – mit lauten Stimmen und noch lauterem Lachen. Doch Brooklyn hatte längere Nägel und schärfere Klingen. Jeder zugedröhnte Soldat, jedes hungrige Kind mit aschfahlen Knien hätte uns das sagen können.

Ein anderes Brooklyn ist viel weniger ein Buch und viel mehr ein Büchlein, schmal, mit Leerzeilen zwischen den Blöcken, kaum eine Geschichte. Und dennoch. Ich habe es nicht gelesen, sondern ratzfatz atemlos auf einer eineinhalbstündigen Zugfahrt aufgefressen. Es kribbelt auf der Haut während der Lektüre, es rumort im Magen und im Herzen auch. Man kann nicht genau festmachen, woran das Unwohlsein liegt, warum es so sticht und schmerzt. Idealerweise klingt in Büchern wie diesem, die so viel ungesagt lassen, genau das Ungesagte noch viel lauter. Das ist hier der Fall, und es ist sehr gut.

Jacqueline Woodson, selbst in Brooklyn aufgewachsen, schreibt seit zwanzig Jahren preisgekrönte Bücher für Jugendliche – und hat nun ihren ersten Roman für Erwachsene vorgelegt. Liegt es vielleicht daran, dass ihr diese jungen Mädchen so gut gelungen sind, diese vier Dreizehnjährigen, die aus dem Kindsein kippen, die das aufregend finden und doch gleichzeitig die Gefahr erkennen, in der sie sich plötzlich befinden? Es geht um Freundschaft in diesem Buch, um Entwurzelung und Verlust. Es geht um Einsamkeit und Neuanfänge, um das Zurückblicken auf eine Zeit im eigenen Leben, die prägend war. Ein merkwürdiges, verwirrendes und tatsächlich unglaublich intensives Buch.

Ein anderes Brooklyn von Jacqueline Woodson ist erschienen bei Piper (ISBN 978-3-492-05865-0, 160 Seiten, 20 Euro).

Für Gourmets: 5 Sterne

IMG_9113„Ich mag dich zu sehr, sagte ich, ungeschickt, aber aufrichtig, und es tut mir nicht gut, dich so sehr zu mögen“

Er ist Amerikaner, unterrichtet jedoch in Sofia, wo er als Expat lebt, wo er die Sprache zwar spricht, aber nicht perfekt, wo er zuhause ist und doch sehr fremd. Auf der Suche nach Sex geht er zu einer öffentlichen Toilette, einem bekannten Treffpunkt für homosexuelle Männer, und dort lernt er Mitko kennen. Was dann beginnt, ist keine Liebesgeschichte, ein reiner Tausch von Geld gegen sexuelle Handlungen ist es aber auch nicht, vielmehr etwas dazwischen, das sich nur schwer oder gar nicht definieren lässt. Das ist in Ordnung, viele Beziehungen entziehen sich der gängigen Definition, und das macht sie anders, macht sie besonders. Die Frage bei der Beziehung in Was zu dir gehört ist nur, ob sie gut tut, ob sie gleichwertig ist und überhaupt sein kann, wo ihre Grenzen verlaufen und wer diese vielleicht längst überschritten hat. Dies ist ein Buch über Anziehungskraft und Abhängigkeit, über Scham und Sehnsucht und Leidenschaft und das, wonach wir alle suchen: diesen einen Moment, in dem wir uns verstanden und sicher und aufgehoben fühlen.

Was zu dir gehört hat mich gefordert. Ich habe es sehr aufmerksam gelesen, neugierig darauf, ob es anders ist zwischen Mann und Mann als zwischen Frau und Mann, wenn es um Macht geht und um Sex – und wenn ja, auf welche Art. Aber selbst nachdem ich es beendet hatte, konnte ich diese Frage für mich nicht beantworten. Ja. Und nein. Wer hat denn die Machtposition inne: der, der das Geld bezahlen kann, damit der andere ihm seinen Körper gibt, oder der, der über diesen Körper verfügt, den der andere so sehr begehrt? Vieles in der homosexuellen Welt ist mir fremd, nicht befremdlich, aber fremd, und vor allem hat der amerikanische Autor – der an der Harvard University und am bekannten Iowa Writers’ Workshop studiert hat – immer dann, wenn es brenzlig wurde und erotisch, ausgeblendet, wie man das eben so macht in Amerika. Dadurch bleibt eine aufgeladene, sehnsuchtsvolle Atmosphäre, ein dichter, schwerer Nebel, in dem ich den einzelnen Handlungen nicht immer ganz folgen konnte. Trotzdem hat die Sprache mich abgeholt, hat der Inhalt mich erschüttert, interessiert, beschäftigt.

Ich denke oft darüber nach, wie es wohl ist, nicht zu entsprechen – in Sachen sexueller Orientierung. Zu merken, dass man nicht heterosexuell ist, als Jugendlicher, als Kind vielleicht schon oder später als Erwachsener, den Erwartungen der Eltern nicht zu entsprechen, ausgegrenzt zu werden, sich zu schämen, sich zu verleugnen. Dazu gibt es in diesem Roman Szenen aus der Jugend des Protagonisten, mit seinem Vater, die sehr intensiv und eindringlich sind. Garth Greenwell hat ein wichtiges Buch geschrieben, das traurig ist und seltsam, verstörend und emotional, ein Buch über Menschen, die uns vorkommen wie die Richtigen und dabei doch die Falschen sind. Das Ende ist in meinen Augen zu dramatisch, ein wenig überzogen, doch nichtsdestotrotz hat Was zu dir gehört mich sehr berührt, mir Einblick gegeben in eine Welt, die gleich neben meiner existiert und vielleicht ja doch nicht so anders ist. Denn diese unstillbare Sehnsucht, die gibt es da wie dort.

Was zu dir gehört ist erschienen bei Hanser Berlin (ISBN 978-3-446-25852-5, 240 Seiten, 22 Euro).

Für Gourmets: 5 Sterne

Cerha„Ich spüre mich nicht. Ich spüre meine Grenzen nicht. Ich weiß nicht, wo ich aufhöre“

„Der frühe Morgen war die einsamste Tageszeit. Der ganz frühe Morgen, wenn es im Sommer gerade hell wurde und die ersten Vögel vereinzelt gegen den Schlaf aufzwitscherten, wenn im Winter noch alles still war und er aus seinem intensiven Traum erwachte.“

Das Träumen wird für Dave zum Thema, als er immer seltsamere und intensivere Träume hat, die ihn auch am Tag beschäftigen. Er, der als Musiker gescheitert ist und sich sein Geld als frustrierter Lehrer verdient, er, der drei Kinder hat, von denen das Älteste nur noch vor dem Computer hängt und die Schule schwänzt, er, dessen Frau Karriere gemacht hat als Ärztin – und der nicht so genau weiß, wie es weitergehen soll mit ihm. War das alles? Was kann, was will er noch erreichen? Und wie viel von seiner Antriebslosigkeit liegt an seinen depressiven Schüben? Das sind Fragen, die in Daves Leben auftauchen, aber es gibt auch konkretere: Wer ist die Frau in seinen Träumen, was hat das alles mit seinem Vater zu tun, zu dem er kein gutes Verhältnis hat, und was ist damals in New York geschehen?

„Ich hasse es, mich nicht an meine Träume zu erinnern, sagte Dave mit Verve, es ist schrecklich, einzuschlafen und in dieses Nichts zu fallen, das nach dem Aufwachen nicht mehr ist als ein Loch im Bewusstsein.“

Deshalb versucht Dave, seinen Träumen auf die Spur zu kommen – und der Geschichte seiner Familie.

Ruth Cerha ist einfach großartig. Ich verehre sie schon lange, weil sie so wunderbare Bücher wie Kopf aus den Wolken und Bora. Eine Geschichte vom Wind geschrieben hat, und seit ich sie persönlich kenne, verehre ich sie noch mehr. Letztes Jahr im November, als ich zur ersten Vertreterkonferenz meines Lebens geladen war, um meinen Roman vorzustellen, hat Ruth mich unter ihre Fittiche genommen, und als wir diesen März in Leipzig waren, hatten wir trotz sibirischer Kälte und Zugausfall „a Gaudi“, wie wir in Österreich sagen, unsere Bücher haben wir auch getauscht, deswegen hat meine Ausgabe von Traumrakete eine sehr schöne Widmung – und ich konnte gleich auf der Heimreise anfangen zu lesen.

Träume sind, finde ich, schwer zu beschreiben, wenn man selbst einen Traum erzählen möchte, merkt man gleich, dass man das nicht so rüberbringen kann, wie es war, und wenn man einen Traum erzählt bekommt, kann man meistens nicht folgen, es nicht nachempfinden. Umso mehr Respekt habe ich davor, dass Ruth sich ausgerechnet an dieses Thema herangetraut – und es mit Bravour gemeistert hat. Daves Träume, die einen Großteil des Buchs ausmachen, sind tatsächlich surreal und der Realität enthoben, dabei aber nie zu wirr oder unverständlich. Sie sind wichtige Anhaltspunkte bei der Suche, auf die man sich als Leser gemeinsam mit Dave macht, der Suche nach Antworten. Ruth Cerha bleibt dabei stets sehr nah dran an ihrem Protagonisten, durchleuchtet ihn vollständig, macht ihn sicht- und greifbar, lässt ihn nie aus den Augen. Besonders gelungen finde ich ihre Beobachtungen, über den Alltag als Familienvater, als Lehrer, der sich etwas anderes vorgestellt hat im Leben, als Ehemann, als Träumender. Sie sind treffsicher und am Punkt.

„Dave sah ihr nach mit diesem auszehrenden Bedauern in der Brust, das man nur seinen eigenen Kindern gegenüber empfindet, eine ganz spezifische Kombination aus bedingungsloser Liebe, nagenden Schuldgefühlen und äußerster Hilflosigkeit.“

Ich weiß, wie sehr Ruth New York liebt, und man merkt es auch im Buch an den detaillierten Beschreibungen, die die Stadt lebendig machen – und noch mehr zu einem Sehnsuchtsort, den ich endlich besuchen will. Ich weiß auch, dass immer dann, wenn ein Roman sich sehr leicht und flüssig liest, sehr viel Arbeit dahintersteckt – was man aber, und das ist die Kunst, nicht merkt. Ich freue mich schon, und das ist wohl das Beste, was ich sagen kann, auf Ruths nächstes Werk.

„Aber es war so ein wunderbares Gefühl,  ohne Gewicht zu sein, sagte er schließlich. Diese Leichtigkeit.“

Traumrakete von Ruth Cerha ist erschienen in der Frankfurter Verlagsanstalt (ISBN 9783627002497, 480 Seiten, 24 Euro).

Für Gourmets: 5 Sterne

Leky
„Man kann nicht für immer mit jemandem zusammen sein, der sich ständig fragt, ob er einen verlassen soll“

Luise hat einen besten Freund, der heißt Martin, und eine Oma hat sie auch, die heißt Selma. Wenn Oma Selma von einem Okapi träumt, stirbt jemand im Dorf, so heißt es, und deswegen sind die Dorfbewohner dann nervös. Zu Recht, denn die Legende ist tatsächlich wahr. Dabei ist ihnen – besonders der verträumten Luise – nicht klar, von welcher Seite der Tod zuschlagen wird. Verträumt ist Luise auch als Erwachsene noch, verstockt, schüchtern, sie würde die Heimat nie verlassen, bewegt sich nur auf den längst ausgetretenen Pfaden, wie ein Mäuschen, das hin und her huscht und keine Aufmerksamkeit erregen will. Was kein Problem wäre, wenn sie sich nicht verlieben würde in Frederik, der unglücklicherweise buddhistischer Mönch ist und in Japan lebt. Die Jahre vergehen langsam in Luises Leben und irgendwie auch schnell, bis es ihr endlich gelingt, Entscheidungen zu treffen, die etwas in Bewegung bringen.

Was man von hier aus sehen kann ist so ein Buch, das hat man eine Zeitlang überall gesehen, wirklich überall, wenn man sich, wie ich, in der Buchfilterblase bewegt, alle haben es gelesen, und viel wichtiger: Alle haben es geliebt. Wenn so etwas geschieht, dann bin ich manchmal zwar neugierig auf das Buch, will es aber partout nicht zur selben Zeit lesen, deshalb bin ich jetzt recht spät dran. Das macht aber nichts, denn sobald der Hype vorbei ist, haben das Buch und ich unsere Ruhe. So war es mit Mariana Lekys neuem Werk und mir. Diese Ruhe haben wir auch gebraucht, genau wie Zeit, denn obwohl ich, das sag ich gleich vorweg, diesen Roman sehr mochte, hat es ewig gedauert, bis ich damit durch war. Stellenweise habe ich das Verschrobene, Zarte, Seltsame gefeiert und geliebt, dann wieder hat es mich derart genervt, dass ich nicht weiterlesen konnte. Es war mir zu viel an Merkwürdigkeiten, es war mir alles zu langsam, zu ereignislos. Luise ist eine wahnsinnig passive Protagonistin, und da ich selbst so ein Hau-drauf-Typ bin, fällt es mir immer schwer, mit derart stummen, ängstlichen Figuren zu gehen. Mehr als einmal wollte ich Luise anschreien, schütteln, aufrütteln. Aber man braucht Geduld mit ihr, das hab ich eingesehen, mit ihr und mit diesem Buch.

Deshalb hat es lange gedauert und meine Geduld wurde strapaziert, aber auch das macht nichts, denn es hat sich gelohnt. Der Hype, die überschwänglichen Lobeshymnen, die begeisterten Kritiken, all das ist in meinen Augen absolut berechtigt. Was man von hier aus sehen kann ist ein fein ausbalanciertes, melodisch komponiertes Buch mit einer großen Portion Verrücktheit, es ist nicht alltäglich, und das macht es originell. Es ist bittersüß und zart, es hat liebenswerte, kauzige Charaktere, Handlung hat es nicht viel, aber eine meisterhafte, verspielte Sprache, die durchgängig bis zum Schluss den Ton hält. Am Ende ergibt alles einen Sinn, und das ist vielleicht das Beste, was man über einen Roman sagen kann.

Was man von hier aus sehen kann ist erschienen bei Dumont (ISBN 978-3-8321-9839-8, 320 Seiten, 20 Euro).

Für Gourmets: 5 Sterne

IMG_8865„Es ist das Einzige, das sie nicht verhandeln können: die Realität. Sie leben, er ist tot“

„Mit seinem Tod zieht ein Gast ein. Wie ein Tier sieht das Wesen aus, sein Rücken mit Haaren, die Wirbel so krumm. Es hockt, seine Schienbeine gerade über dem Boden. So sitzt es da, bereit, nicht zum Sprung, auf der Lauer. Es ist hier, um zu bleiben.“

Milla hat ihren besten Freund Jan verloren. Jan, den sie schon als Kind kannte, Jan, mit dem sie einst zusammenwohnte und später nicht mehr, Jan, dem sie so viel nicht gesagt hat, was sie ihm hätte sagen müssen. Jan ist tot, seit bald fünf Jahren schon, und Milla hat jetzt ein Kind, auf das sie aufpasst, das sie versorgt und tröstet, dem sie vorliest und aufhilft. Ein Kind namens Emma, das bei Milla wohnt, aber nicht Mama zu ihr sagt, weil Emma nicht Millas Tochter ist. Und das ist der Punkt, an dem es nicht nur traurig wird, sondern auch kompliziert, so, wie es immer ist mit der Liebe und dem Tod.

Sina Pousset hat einen Debütroman geschrieben, der einem den Kopf unter Wasser drückt. Die Welt ist dann weg, außen vor, die Geräusche sind gedämpft, die Farben auch, der Blick ist trüb und vielleicht hat man ein bisschen Angst. Angst, dass dieses Buch einem wehtun wird, und dazu kann ich nur sagen: Das ist begründet. Schwimmen lässt garantiert niemanden kalt. Es ist ein Buch über die Freundschaft und jene Grenzen, an denen Freundschaft ausfranst, sich verwandelt, wenn man es zulässt, an denen sie aber auch zugrunde gehen kann, wenn man nicht aufpasst, wenn man den Zeitpunkt verpasst, immer wieder. Es ist außerdem ein Buch über die Unfähigkeit weiterzumachen nach einem Verlust, der so umfassend ist, dass man sich wie ausgehebelt fühlt danach, als sei oben unten und unten oben, als habe man kein Ziel mehr und keinen Anker.

„Das Problem haben die, die zurückbleiben und versuchen, einen Sinn darin zu finden.“

Bemerkenswert ist Sina Poussets Sprache. Sie holt mich ab, da, wo ich stehe, keine Minute dauert das, ich lese die erste Seite und weiß: Ja. Dir reiche ich die Hand, mit dir gehe ich mit, es macht nichts, wenn wir ins Wasser müssen, wenn wir tauchen müssen. Wenn du diese Sprache hast, dann folge ich dir. An den Strand und in das Haus, in dem Jan und Milla so eine gute Zeit hatten, dort in Frankreich. Zur Spurensuche nach dem Warum. Und zu jenem Menschen, der die Antworten kennt. Ich höre zu, ich nicke, und einmal weine ich vielleicht kurz, aber das kann man unter Wasser zum Glück ja nicht sehen.

„Alles ist hier. Nichts geht zu Ende.“

Schwimmen von Sina Pousset ist erschienen bei Ullstein fünf (ISBN  9783961010073, 224 Seiten, 18 Euro).

Für Gourmets: 5 Sterne

Faye„Der Krieg findet für uns Feinde, ohne dass wir ihn darum gebeten haben“
Das lernt der kleine Gabriel, als plötzlich die Hölle über ihn und alle seine Landsleute hereinbricht. Bis zu dem Zeitpunkt, da der Krieg beginnt, hat er eine wilde, unkontrollierte, schöne Kindheit. Er klaut Mangos mit seinen Freunden, hört mit ihnen Musik, spielt draußen auf der Straße und ist in erster Linie eins: frei.

„In der Zeit davor, bevor das alles passierte, vor dem, was ich erzählen werde, und dem ganzen Rest, war es das Glück, das Leben, das man nicht erklären muss. (…) In der Zeit des Glücks antwortete ich auf die Frage „Wie geht’s?“ immer mit „Gut!“. Einfach so, zack.“

Später wird er das nicht mehr tun. Nie mehr. Denn später, das ist im Bürgerkrieg. Später, das ist während des Abschlachtens von Hutu und Tutsi, während der Massaker, während der Angst. Später weiß Gabriel nicht mehr, wie er jemals unbefangen und glücklich sein konnte. Und er weiß auch nicht, wie er diesem Schlachtfeld von einem Land entkommen soll.

„Wir wussten es noch nicht, aber die Zeit des Infernos war gekommen, und die Nacht ließ das Rudel der Hyänen und Wildhunde los.“

Gabriel hat keine Möglichkeit, zu verstehen, was in Burundi los ist. Warum töten Menschen einander, die gerade noch friedlich miteinander lebten? Was haben Leute wie sein Vater, der aus Frankreich stammt, damit zu tun? Und wie kann er sich fernhalten, sich in Sicherheit bringen?

„Obwohl ich neutral bleiben wollte, gelang es mir nicht. Ich war mit dieser Geschichte geboren. Sie lag mir im Blut. Ich gehörte ihr.“

Das zeigt sich auch, als der erst in der Ferne tobende Krieg näher kommt: Plötzlich ist Gabriels eigene Familie betroffen. Plötzlich werden Menschen ermordet, die ihm etwas bedeuten, und seine Mutter gerät zwischen die Fronten. Plötzlich ist von der Freundschaft, die ihn mit den Nachbarsjungen verband, nichts mehr übrig.

Gaël Faye ist nicht der Erste, der auf die Idee gekommen ist, aus der Sicht eines Kindes vom Krieg zu erzählen, natürlich nicht. Bestimmt fallen jedem von euch auf Anhieb mehrere Romane ein, die so funktionieren. Aber das ist unerheblich. Denn Kleines Land ist trotzdem anders und neu. Und es ist trotzdem sehr, sehr gut. Außerdem hat jede Geschichte, jedes Buch, jeder Roman über den Krieg eine Berechtigung, denn vom Krieg soll und muss erzählt werden, wieder und wieder. Gaël Faye findet dafür einen ganz eigenen Ton, einen leichten, melodischen Ton, durchbrochen von der Tiefsinnigkeit der Retrospektive. Denn er lässt seinen Protagonisten Gabriel, der wohl autobiografisch für den Autor selbst steht, aus der Ferne des Erwachsenenlebens von damals berichten. Dadurch sind wir zwar mit Gabriel in seiner Kindheit, sehen aber alles durch den Filter desjenigen, der viele Jahre später das nötige Wissen hat, das dem Kind einst fehlte. Und wir sehen durch den Filter Europas auf Afrika, aber mit jemandem, dessen Wurzeln dort liegen.

Es gibt keine Worte, um einen Krieg begreiflich zu machen. Aber Gaël Faye findet Worte, die beschreiben, wie zerstörerisch die Kräfte sind, die Menschen entfesseln. Wie schnell das Glück verschwinden kann, als hätte es nie existiert. Er berührt mich sehr mit diesem Roman, mit dieser großen Geschichte über sein kleines Land.

Kleines Land von Gaël Faye ist erschienen im Piper Verlag (ISBN 978-3-492-05838-4, 224 Seiten, 20 Euro).

 

Für Gourmets: 5 Sterne

Moster„Es ist unser Dorf, wir haben kein anderes“

„Es gibt doch nichts Einfacheres, jedes Kind kann laufen, bevor es sprechen kann, und so hätten wir gehen sollen, laufen, wie Kinder.“

Aber sie sind alle noch da, die Mädchen, die Väter, die Mütter, in diesem Dorf, das sie nie verlassen haben, in diesem Dorf, in dem sie geboren sind. Ein Mädchen erzählt seine Geschichte, ein Mädchen an der Grenze zum Frauwerden, eines, das eigentlich fort möchte, aber nicht gehen kann. Dann kommt einer ins Dorf, der hier nicht hingehört, einer von außen, ein Fremder, und wie das manchmal so ist, zerstört er das Gefüge, das in dem Dorf besteht, und plötzlich fliegen ihm die Trümmer die Ohren, plötzlich liegt er selbst unter diesen Trümmern begraben.

„Etwas, jemand, ist hier gewesen. Die Steine liegen verkehrt herum auf der Mauer. Die Wände bröckeln. Ein Hund fehlt. Wir schauen uns an, ohne etwas zu sagen. Die Träume der letzten Nacht verlaufen als dunkle, harte Sehnen von Norden nach Süden durch unsere Körper, im Osten erhebt sich die Sonne über dem Hang und der Mauer, im Westen huschen die Eidechsen über das brachliegende Feld.“

Das Mädchen sieht zu und spürt und weiß, aber ändern kann es nichts. Es ist genauso gefangen wie seine Freundinnen, in dem Dorf, das sie einfach verlassen könnten, wie die Mütter, die Väter, die sich im Kalkbruch abschuften. Dem Kalkbruch, der leer ist, und der, wenn er stillgelegt wird, das ganze Leben im Dorf, nein, das ganze Dorf selbst beenden wird.

„Das Gewitter liegt geschlagen am Hang. Es hat die Gestalt eines Bocks, die Hufe ragen steif in die Straße hinein, der Kopf ruht in einer Mulde, die sich langsam mit Tränen und Speichel füllt. Die Hörner zerwehen im Mondlicht.“

So hört sich dieses Buch an. Es ist eine Urgewalt, ein Naturereignis, rau und archaisch und wild. Es ist der erste Roman, der Wildauge nahekommt, ein wenig zumindest, dem bisher sprachlich beeindruckendsten Buch, das ich in den letzten Jahren gelesen habe. Ich war auf nichts Überwältigendes vorbereitet, saß im Flugzeug nach Frankfurt, blätterte in Andreas Mosters erstem Roman, und dann kam da dieser Strick aus den Seiten und schlang sich um mich. Immer wieder starrte ich das Foto des Autors an und dachte: Wo hast du diese Sprache gefunden? Warum ist sie so ungewöhnlich, so neu, so anders? Und warum kann ich nicht so schreiben? Ich war überwältigt und verliebt. Ich stehe auf Sätze, die wie Messer sind. Die keinen Sinn ergeben und irgendwie doch. Die man zweimal, dreimal lesen muss, und dann dazu dieses Ungestüme, Düstere, Verschlagene. Halleluja, was für ein Buch.

Die Geschichte selbst ist so schwarz wie die Herzen der Dorfbewohner. Sie handelt von Macht und Missbrauch, von alten Traditionen und Unterdrückung, von Angst und Mord. Sie handelt auch vom Wald und den Tieren, von Instinkten und der Sehnsucht nach Freiheit. Die Menschen denken sich Methoden aus, Rituale, Hierarchien, um zu überleben, gemeinsam. Und doch sind es oft genau diese Hierarchien, die Einzelne von ihnen das Leben kosten. Von ihnen erzählt dieser Roman, und gleichzeitig erzählt er noch so viel mehr. Er ist stark und ungezähmt, ein wildes Tier, ein kleines Beben. Wir leben hier, seit wir geboren sind – das übrigens auch noch einen genialen Umschlag hat – gehört definitiv zu den besten Büchern des Jahres 2017.

Wir leben hier, seit wir geboren sind von Andreas Moster ist erschienen im Eichborn Verlag (ISBN 978-3-8479-0627-8, 176 Seiten, 18 Euro).

 

 

Für Gourmets: 5 Sterne

Cognetti„Wenn einer in die Berge geht, dann weil man ihn im Tal nicht in Frieden lässt“
Pietros Vater ist so einer, der in die Berge geht, in die Berge rennt, mit Verbissenheit, mit Obsession, als könnte er nur dort oben wirklich atmen. Das ganze Jahr über arbeitet er – die Familie lebt in Mailand –, doch kaum hat er Urlaub, zieht es ihn hinaus aufs Land und hinauf zu den Gipfeln.

„Gelassenheit gehörte nicht gerade zu den Tugenden meines Vaters, aber in der Stadt hätte er sie besser gebrauchen können als Ausdauer.“

Die Mutter findet ein Häuschen in einem winzigen Bergdorf, um das sich niemand mehr kümmert:

„Das war nicht bloße Nachlässigkeit, sondern fast schon so etwas wie Verachtung für diese Dinge, eine Lust daran, sie vergammeln zu lassen (…). Ganz so, als wäre das Schicksal dieser Orte längst besiegelt und jede Form von Instandhaltung vergebliche Liebesmüh.“

Hier lernt Pietro Bruno kennen, einen schweigsamen Jungen im selben Alter, der die Kühe hütet. Jahr für Jahr treffen sie sich im Sommer und erkunden gemeinsam die Berge. Doch wie kann sich eine solche Freundschaft, die geografisch derart beschränkt ist, weiterentwickeln, wenn Pietro und Bruno erwachsen sind? Oder muss sie das vielleicht gar nicht, kann sie ein Zufluchtsort bleiben, der sich nicht verändert?

„Als Erwachsener kann man einen Ort, den man als Kind geliebt hat, auf einmal ganz anders empfinden und von ihm enttäuscht sein. Oder aber er erinnert einen an denjenigen, der man einmal war, und machte einen unendlich traurig.“

Paolo Cognetti kennt sich aus in den Bergen: Seine Hütte im Aostatal befindet sich auf 2000 Metern Höhe. Zudem war er an der Filmhochschule und hat Dokumentarfilme produziert. Das bedeutet: Er hat das Wissen für beide seine Hauptfiguren – Bruno, der in den Bergen ist, Pietro, der Dokumentarfilme macht – in sich vereint. Besonders die Liebe zum Bergsteigen, die er selbst empfindet, spürt man in jeder Zeile des Buchs. Es ist ein schönes Gleichnis, das Paolo Cognetti zur zentralen Frage seines Romans macht: Wer hat mehr gesehen, derjenige, der zu allen acht Bergen reist, oder der, der den höchsten Gipfel besteigt? Der Autor kettet zwei Männer aneinander, von denen einer weg will und einer bleibt, von denen einer Perspektiven hat und einer nicht. Um das Scheitern geht es in diesem Buch, um Selbstfindung, um die Verbundenheit zur Natur und die Gründe, aus denen wir uns von ihr entfernen, um Freundschaft und die Erkenntnis, dass wir oft erst wissen, was richtig wäre, wenn es längst zu spät ist.

Acht Berge ist ein langsames, ruhiges, schlichtes und gerade deshalb wunderbares Buch. Es ist wie ein entspannender Ausflug, der den Leser runterkommen lässt. Es ist auch eine Zeitreise in jene Jahre, in denen Smartphones und Internet noch nicht unser Leben bestimmten – als Kinder noch frei von Apps waren und die Wälder ihr liebster Spielplatz. Paolo Cognetti hat seine zwei Protagonisten sehr fein gezeichnet, denn sie sind nicht perfekt, sondern glaubwürdig. Sie sind – jeder für sich – egozentrisch und blind, sie zerkrachen sich, entfremden sich, reden zu wenig und halten doch zueinander. Das zu lesen, ist sehr schön, und beim durchaus konsequenten, einzig logischen Ende hatte ich Tränen in den Augen. Der Autor schlägt keine sprachlichen Kapriolen, und das ist erholsam. Er erzählt so, wie die Geschichte nun einmal ist: raus, unkompliziert, menschlich. Eine absolute Leseempfehlung.

Acht Berge von Paolo Cognetti ist erschienen bei der DVA (ISBN 978-3-421-04778-6, 256 Seiten, 20 Euro).

Für Gourmets: 5 Sterne

Gill„Väter gingen fort, gelegentlich auch Mütter. Häuser hatten dazubleiben“
Doch das gilt nicht in New York, wie der dreizehnjährige Griffin in den 1970er-Jahren lernen muss: Die Stadt ist nicht nur im Wandel, sie IST der Wandel. Sie reißt sich selbst ab, baut sich wieder auf – Tag für Tag. Kahlschlagsanierung wird das genannt, ganze Viertel werden plattgewalzt, um Platz zu machen für neue Wolkenkratzer, Hotels, Bürogebäude. Wunderschöne gotische Ornamente müssen weichen, Wasserspeier werden zerschlagen, Sandsteinfiguren in den Schutt geworfen. Griffin selbst wäre das vielleicht nicht einmal aufgefallen. Aber sein Vater, der als Restaurator und Antiquitätenhändler arbeitet, ist verrückt nach der Geschichte der Stadt, um nicht zu sagen: Er ist von ihr besessen.

Die Stadt hatte ein reiches, vielfältiges Leben, lange bevor du dahergekommen bist, Griffin, mit deinen eigenen, persönlichen kleinen Vorstellungen. Sie ist größer als du.

Sein Dad würde am liebsten eine große Kuppel über New York stülpen und verhindern, dass die Stadt zerstört wird, dass sich etwas verändert. In seinem Familienleben gilt das jedoch nicht: Er hat Griffins Mom verlassen, die Familie ist zerbrochen. Eigentlich hat Griffin genug Probleme, die ihn beschäftigt halten – das Zusammenleben mit seiner Mutter, seiner Schwester und vielen wechselnden, schrulligen Untermietern, seine erste Schwärmerei für die fünfzehnjährige Dani, die Schule, die Pubertät –, doch er sucht verständlicherweise die Nähe seines Vaters, den er nur zu Gesicht bekommt, wenn er mit ihm auf Streifzug geht. Denn um New Yorks schönste Stücke zu bewahren, geht Griffins Dad an die Grenzen – und weit darüber hinaus: Nachts stehlen sie gemeinsam Ornamente von Fassaden. Mehr als einmal gerät Griffin dabei in Lebensgefahr. Doch sein Vater, so scheint es, schaut nur zurück in die Vergangenheit – und übersieht dabei alles, was jetzt geschieht.

Dieses Buch ist durchzogen von Wehmut. Es ist, wenn man so will, Wehmut in Worten. Es ist ein Roman über Vergänglichkeit und Verlust, über die Unerbittlichkeit des Lebens, das immer weitergeht und alle zurücklässt, die nicht Schritt halten. Es ist zudem ein wahnsinnig interessanter Roman über Architektur und eine faszinierende Stadt: New York. Ich war noch nie dort, und sie ist ein Sehnsuchtsort für mich. Eine Stadt, über die ich viel nachdenke, eine Stadt, die ich bereisen und erleben möchte, irgendwann, wenn ich es endlich kann. Wie muss es sein, dort aufzuwachsen? Was für ein Mensch wird man in New York? Und wie unterscheidet man sich dann von jenen, die hier aufwachsen, auf dem Land, zwischen Bergen und Seen? Das sind Fragen, die ich mir oft stelle. Umso neugieriger hat mich dieses Buch gemacht, das noch dazu in den Siebzigern spielt: einer Zeit, die offenbar so viel freier war als die heutige. Meistens läuft der dreizehnjährige Protagonist allein durch die Metropole, ohne Helikoptereltern, ohne Handy. Auch danach habe ich, obwohl ich ein Kind der Achtziger bin, eine heimliche Sehnsucht: nach diesem Leben ohne Überwachung. Und nach den Orten meiner Kindheit, die es allesamt nicht mehr gibt. Nach dem Geschäft, in dem ich mein Taschengeld gegen Sticker getauscht habe, nach dem Laden, in dem mein Opa Schrauben gekauft hat, nach dem alten Kramer, bei dem es die klebrigen Gummischlangen gab. Es hängen persönliche Erinnerungen an Gebäuden, und ich kann Griffins Vater gut verstehen, wenn er jenen Orten nachtrauert, an denen erste Küsse stattgefunden haben, an denen er mit seiner Mutter war, an denen er glücklich war. Sie alle wurden dem Erdboden gleich gemacht.

Diese Stadt hat kein Gedächtnis, und nach einiger Zeit verheilen gewissermaßen die Wunden in der Skyline, bis sich niemand mehr auch nur daran erinnert, was alles verloren gegangen ist.

Ich liebe melancholische Romane. Und es gab Momente im ersten Drittel dieses Buchs, da dachte ich: Das könnte es sein, das beste Buch, das ich in diesem Jahr lese. Eine Durststrecke in der Mitte hat das dann verhindert, da wird es doch recht langatmig und jugendbuchig, was mich kurzzeitig abgeschreckt hat. Fürs Durchhalten wird man aber mit einem fulminanten Schluss belohnt: Da präsentiert John Freeman Gill einen in jeder Hinsicht stürmischen Showdown.  Der amerikanische Autor, der als Spezialist für Architekturgeschichte für Zeitungen und Zeitschriften schreibt, ist selbst gebürtiger New Yorker. Das ist, wie mir scheint, Voraussetzung für ein solch engagiertes, elegisches Mammutwerk, das auf 450 Seiten nur so überfließt mit Informationen über die architektonische Geschichte der Stadt, ihre Bauwerke – jene, die vernichtet wurden, und jene, die noch existieren – und deren Entstehung. Er greift darin eine wichtige Frage auf: Was gilt es wirklich zu bewahren und wann ist es an der Zeit, weiterzumachen, sich von Altem zu trennen, auf den Zug der Zukunft aufzuspringen? Gleichzeitig ist dies aber auch eine sehr berührende Vater-Sohn- und Coming-of-Age-Geschichte. Klug, sentimental, voller Gefühl, Einsicht und Weitsicht – ein wirklich wunderbares Buch, das ich euch nur ans Herz legen kann.

Die Fassadendiebe von John Freeman Gill ist erschienen im Berlin Verlag (ISBN 978-3-8270-1320-0, 464 Seiten, 24 Euro).