Bücherwurmloch

„Ideal für den Heiratsmarkt sind Frauen mit geringer Vitalität. Solche, die eher tot als lebendig sind“
Rika ist Journalistin in Tokio und stößt auf den Fall von Manako Kaji, die für Aufsehen gesorgt hat, weil drei an ihr interessierte Männer auf mysteriöse Weise ums Leben gekommen sind. Obwohl man ihr keinerlei Tötungsabsicht nachweisen konnte, sitzt Kaji im Gefängnis. In erster Linie ist die Öffentlichkeit jedoch schockiert, weil sie so gerne kocht und isst und nicht – japanischem Standard zufolge – dünn ist. Die kleinen, sehr zarten Frauen sollen, auch Rika, sich zusammenreißen und Diät halten. Wir sprechen hier davon, dass Rika nicht mehr als 55 Kilo wiegen darf, dann gilt sie bereits als dick. Es gelingt ihr, Kontakt zu Kaji herzustellen, die sehr von sich eingenommen und sprunghaft ist. Sie zwingt Rika erst einmal dazu, Butter zu kaufen und zu essen.

„Eine Frau musste schon sehr resolut sein, um sich zu entscheiden, keine Diät zu machen und einfach dick zu sein.“

Rika entdeckt dadurch neue kulinarische Genüsse, bekommt Probleme mit ihrem Partner und ihrer besten Freundin, weil sie mehr wiegt, setzt sich mit der Lage der Frau in Japan auseinander und macht sich schließlich auf, alles über Kajis Vergangenheit herauszufinden.

„Von Japanerinnen wird verlangt, geduldig, fleißig und leidensfähig zu sein und sich zugleich weiblich, nachsichtig und fürsorglich gegenüber Männern zu verhalten.“

Butter von Asako Yuzuki hat mich arg genervt. Ich finde die Ausgangsidee genial und auch viele Gedanken, die das Buch transportiert, wichtig: Dass da zwei Frauen miteinander reden, dass die eine die andere dazu inspiriert, zu essen, zu genießen, sich aufzulehnen, Raum einzunehmen. Doch so einfach ist es nicht, denn der Roman ist langatmig und kommt nicht zum Punkt – er hat mich sehr an Brüste und Eier von Mieko Kawakami erinnert, die ihre zentrale Botschaft auch mit viel Belanglosem zugedeckt hat. Die Butter als Metapher für das „Dicksein“ ist so überstrapaziert, irgendwann dachte ich: Wenn noch einmal das Wort Butter vorkommt, schreie ich. Asako Yuzuki winkt nicht mit dem Zaunpfahl, sie schlägt einem permanent damit ins Gesicht, und Plot holes hat die Geschichte auch noch. Aber: Es geht um Körperwahrnehmung und Frauen, die sich wehren, es geht um weibliche Wut und die wahnsinnigen Anforderungen an Japanerinnen. Darüber zu schreiben, ist wichtig, darüber zu sprechen, ist essenziell. Für einen Roman wäre mir eine knappere, spannendere Form allerdings lieber gewesen.

Buttervon Asako Yuzuki ist erschienen bei Aufbau.

 

Bücherwurmloch

„Wie viel Liebe es braucht, um so zu hassen“
Porträts von Menschen aus den unteren Gesellschaftsschichten Floridas: Ich wusste nicht, was ich mir darunter vorstellen sollte, und umso mehr hat diese Kurzgeschichtensammlung mich überrascht. Es geht darin um die Trauer nach einer Fehlgeburt, um einen Roadtrip mit der Asche des Vaters, dem entfremdeten Bruder und seiner weißen Freundin, um die Unfähigkeit einer Mutter, mit ihrer Teenager-Tochter zu sprechen, um die vorauseilende Wehmut eines Mannes, dessen Frau sterben wird. Die Storys handeln von Religiosität und Zusammenhalt, von Versagensangst und dieser bitteren Traurigkeit, die einfach nicht verschwindet, egal, was man tut. Sie sind allesamt klug, feinfühlig und modern, stellenweise durchaus feministisch. In erster Linie bilden sie die Vielseitigkeit menschlicher Gefühle ab – und es sind auch solche dabei, für die man selbst nie die passenden Worte findet.

„Das Leben ist ein Kreislauf, glaubst du nicht? Du kannst nirgendwohin, wo nicht schon mal jemand vor dir war.“

Ich bin begeistert! Ich liebe Kurzgeschichten – aber nur, wenn sie folgende strenge Auflagen erfüllen: Sie müssen ein bisschen weird sein, aber nicht zu unverständlich, sie sollen eine Empfindung in mir auslösen, gern auch eine unangenehme, sie sollen einen Tick zu früh aufhören, sodass alles in der Schwebe bleibt und nicht auserklärt ist, aber eben genau richtig. Klingt vielleicht kompliziert, und doch gelingt es vielen Autor:innen, diese perfekte Balance zu erwischen: So auch Dantiel W. Moniz. Ich habe ihre Short Storys regelrecht verschlungen, so gut haben sie mir gefallen. Sie sind seltsam und originell, voll kleiner Herausforderungen und ungewöhnlicher Gedanken. Sie sind kurz und hallen lange nach, sie haben Schwarze Frauen als Protagonistinnen und das Menschsein zum Inhalt. All das Lob, mit dem die Schwarze Autorin überhäuft wurde, ist absolut berechtigt. Ihr müsst das unbedingt lesen!

Milch Blut Hitze von Dantiel W. Moniz ist erschienen bei C. H. Beck.

 

 

Bücherwurmloch

„Trotzdem ist sie da. Angst. Jeder Tag ist eine Möglichkeit, es zu versauen“
Sie hat die Chance, die ihre Vorfahren nie hatten: Sie ist Schwarz, sie arbeitet im Finanzsektor, sie hat einen Freund aus gutem britischem Hause und sie hat Geld. Die Ich-Erzählerin könnte oberflächlich betrachtet vielleicht glücklich sein, doch davon ist sie weit entfernt. Zum einen begegnet man ihr jeden Tag mit Rassismus und Misogynie, zum anderen hat sie eine Diagnose bekommen, über die sie mit niemandem spricht. Sie ist müde, aber es ist eine viel tiefere, ältere Müdigkeit als jene, die vom anstrengenden Job und dem Bemühen, den schönen Schein zu wahren, rührt: Es ist die Müdigkeit der Sklaverei und des Kolonialismus, die Müdigkeit der tonnenschweren Erwartungen, die auf so einer modernen, gebildeten Schwarzen Frau lasten. Dies ist ein schmaler Roman über einen einzigen, sehr radikalen und dabei dennoch absolut verständlichen Gedanken.

Auf 113 Seiten entwirft die in den Staaten gefeierte Autorin Natasha Brown, die selbst lange im Finanzsektor Londons gearbeitet hat, ein Frauenleben. Skizziert den Schmerz, die Erschöpfung, die Sehnsucht danach, einfach aufzugeben, vor allem: aufgeben zu dürfen. Wie kann eine, der endlich alle Türen offenstehen, sich weigern, hindurchzugehen? Sie sehen ihr doch zu, alle sehen ihr zu, und sie soll gefälligst aufrecht hindurchschreiten und lächeln dabei. Aber was, wenn die Frau nicht will, nicht kann, das Spiel allzu genau durchschaut und nicht weiß, woher sie die Kraft nehmen soll, um weiterhin mitzuspielen? So wenig Seiten und doch so eindrucksvoll: Natasha Brown erklärt nicht viel, wirft uns kurze Absätze und Episoden entgegen, wie Erbrochenes fast, sehr reduziert, sprachlich zugespitzt. Im letzten Drittel artet es teilweise zu einem Sermon aus, sie spiegelt unseren Rassismus und predigt voller Wut, aber diese Wut ist ihr gutes Recht und absolut begründet. Ein wichtiges, intelligentes, auf seine Kernbotschaft heruntergebrochenes Buch, das bei mir viel Eindruck hinterlassen hat und immer noch nachhallt.

Zusammenkunft von Natasha Brown ist erschienen bei Suhrkamp.

Bücherwurmloch

„Und deshalb ist es nicht ihre Entscheidung gewesen, nichts mehr zu essen, sondern die Entscheidung der Menschen um sie herum“
Elisabeth ist tot, sie ist verhungert. Umgeben von ihrer Schwester Melodie, Petrus und Muriel, mit denen sie in einer Wohngemeinschaft gelebt hat, ist Elisabeth gestorben, und wegen ihres unterernährten Zustands interessiert sich nun die Polizei für den Vorfall: Melodie, Petrus und Muriel werden in Gewahrsam genommen. Was ist geschehen? Warum haben diese vier Menschen aufgehört, Nahrung zu sich zu nehmen? Tragen sie Schuld am Tod von Elisabeth, kann man überhaupt von Fremdeinwirkung sprechen, wenn ein erwachsener Mensch das Essen verweigert? Auf diese Fragen findet dieses Buch mögliche Antworten – erzählt aus der Sicht derer, die nahe dran waren: der Entsafter zum Beispiel oder der Rechtsbeistand, die harten Fakten, der Zweifel, am Ende auch: das Licht.

Gerda Blees hat einen unfassbar eindrücklichen Roman geschrieben, zu dem ein wahrer Fall sie inspiriert hat. Sie greift die Sprache der Menschen, die in der Esoterik den Sinn des Lebens gefunden haben und sich von Licht ernähren möchten, gekonnt auf, zeigt, wie tückisch sie ist, aber auch wie wohlwollend, einlullend, fast schon einschläfernd. Melodie hat als gescheiterte Cellistin und verlassene Frau selbst einen Leidensweg hinter sich, als ihre Schwester sowie die beiden anderen bei ihr einziehen, und vielleicht – ja, vielleicht – hat sie es wirklich gut gemeint, wollte sie ihnen tatsächlich helfen. Aber wie weit darf man dabei gehen? Wann hätten sie einschreiten, den Tod der Mitbewohnerin verhindern müssen? Um Verantwortung und Schuld geht es in „Wir sind das Licht“, um ein Abdriften, ein Lossagen von der Gesellschaft, gleichzeitig aber auch – in der Konsequenz – vom Leben selbst. Es tut dem Menschen weh, dass er abhängig ist von banalen Dingen wie Essen, Trinken und Schlafen, weil er sich gern als höheres Wesen sieht, als erleuchtet, fern dem Irdischen. Wunderbar ungewöhnlich sind die Erzählperspektiven, die Gerda Blees gewählt hat, sie machen diesen sehr besonderen Roman wirklich eindrucksvoll. Chapeau!

Wir sind das Licht von Gerda Blees ist erschienen bei Zsolnay.

Bücherwurmloch

„We give them any cause to be frightened and they forget how much they need us“
Die namenlose Ich-Erzählerin und ihr Vater, der sie aus der Erde geholt und erschaffen hat, helfen den Menschen – die sie „Cures“ nennen – bei allen Leiden und Krankheiten, indem sie ihre Körper öffnen. Sie holen das Krankmachende heraus oder graben die Menschen in die Erde, the Ground ein, für ein paar Tage und Nächte, bis das, was sie befallen hat, verschwunden ist. So weit, so seltsam und unheimlich: Dann lernt die Ich-Erzählerin Samson kennen, dessen schwangere Schwester ihren Mann verloren hat, und verbringt immer mehr Zeit mit ihm. Sie will ihn in sich aufnehmen, ihn sich einverleiben, er will mit ihr fortgehen – und dann kommt ein Sturm auf, der alles verändern wird.

„How do you talk to someone who’s been inside you? Who’s seen more of you than you’ve seen of yourself?“

Sue Rainsford hat ein Buch geschrieben, das mich schon nach wenigen Seiten hat aufhorchen lassen: Unglaublich konsequent konstruiert und erzählt, sprachmächtig, mysteriös und andersartig ist „Follow me to Ground“ feinster literarischer Horror. Es hat mich sofort gefesselt, begeistert und hellwach gemacht, einer jener Romane, die man wirklich nicht zur Seite legen kann und will. Großartig finde ich, dass die Autorin sich nicht mit Erklärungen aufhält, sondern die Lesenden direkt hineinwirft in diese Welt, in der nicht infrage gestellt wird, dass es jemanden wie die Ich-Erzählerin und ihren Vater geben kann. Ebenso schlau fand ich, weil es zur Gruselatmosphäre beiträgt, dass ihnen beiden der Ground selbst rätselhaft zu sein scheint und sie auf der Hut sind vor dem, was da unter der Oberfläche geschieht. Dabei ist das Buch jedoch nie platt, sondern sehr fein gewoben, melodisch, irgendwie zart, ein wenig zynisch – eine richtig gute Mischung. Ich habe es geliebt!

Bücherwurmloch

„Menschen sind mit dem Rest des Lebens auf der Erde nicht mehr vereinbar“
Das sagt Carl Safina, einer der vielen Menschen, mit denen Sibylle Berg für dieses Buch gesprochen hat. Safina ist Meeresökologe, Bestsellerautor und Gründer einer Umweltschutzorganisation. Jede:n Einzelne:n hat Frau Berg gefragt, ob er oder sie sich heute schon über den Zustand der Welt gesorgt hat, und fast alle sagen sie Ja: Da kommt ein Soziologe zu Wort und ein Gewaltforscher, eine Expertin für Femizid und einer für die Interaktion von Mensch und Maschine, eine Pathologin, ein Systemtheoretiker, ein Männlichkeitsforscher, ein Neuropsychologe. Was haben sie über ebendiesen Zustand der Welt zu sagen? Womit beschäftigen sie sich genau und wie sind sie dazu gekommen? Das sind die Ausgangsfragen, die Frau Berg stellt, und auf deren Basis sich insgesamt sechzehn hochinteressante, vielseitige und sehr aktuelle Gespräche ergeben, die ich wahnsinnig gern gelesen habe.

„Wir haben die Gewalt gegen Frauen so normalisiert, dass es fast unmöglich ist, zu erkennen, dass es sich schlicht und ergreifend um Terrorismus handelt.“

Zum einen finde ich es ungemein spannend, was andere Leute so für Berufe haben – von manchen hatte ich im Leben noch nie gehört –, zum anderen hat Frau Berg jedes Mal Wert darauf gelegt, dass, so schlimm es auch stehen mag um die Menschheit, am Ende ein wenig Optimismus durchschimmert. Die Pandemie hat zum Zeitpunkt der Veröffentlich noch nicht stattgefunden, trotzdem versöhnt mich das Buch gerade in Zeiten wie diesen zumindest minimal mit der unendlichen Dummheit unserer Spezies und lässt mich ab und zu denken, dass wir ja vielleicht – vielleicht! – doch nicht aussterben (müssen). Ich habe sehr viel gelernt durch diese Interviews, die durch die Bank, obwohl sie manchmal Kompliziertes behandeln, sehr kurzweilig und von schöner Ironie durchzogen sind. So sollte Wissenschaft präsentiert werden: verständlich aufbereitet, für jede:n zugänglich, sodass die Erkenntnisse weitergetragen werden können, auch wenn man sich mit der jeweiligen Materie nicht auskennt. Sollte Frau Berg einen zweiten Teil machen, ich würde da glatt noch mehr davon lesen.

Nerds retten die Welt. Gespräche mit denen, die es wissen von Sibylle Berg ist erschienen bei Kiepenheuer & Witsch.

 

Bücherwurmloch

„Alles, was ihr jemals etwas bedeutet hat, existiert in digitaler Form“
Fanni arbeitet für BELL, eine Firma, die Häuser mit Überwachungssystemen ausstattet, und beobachtet am liebsten die Naumanns, wie sie mit der kleinen Tochter Moira frühstücken, ihren Alltagspflichten nachgehen. Ihr eigener Alltag ist einigermaßen trist, zu den Eltern, die sie früh ins Internat abgestellt haben, hat sie kein gutes Verhältnis, ansonsten gibt es nichts Interessantes in Fannis Leben. Sie will nur im Cubicle sein, Daten ziehen, Menschen zuschauen, und manchmal verkauft sie diese Daten auch – mit schwerwiegenden Folgen. Junya lebt in Tokio, hat jedoch seit knapp zwanzig Jahren sein Zimmer nicht mehr verlassen. Zu schwer haben ihn die Mobbing-Erlebnisse zu Schulzeiten traumatisiert. Jetzt lässt er sich von seiner schwerkranken Mutter versorgen, spricht jedoch nie mit ihr. Nachts packt er allerdings eine Maske und einen Hammer ein, macht sich auf den Weg durch die immer laute Stadt – um Rache zu nehmen.

Philipp Winkler, der sich seinen Erfolg mit dem buchpreisnominierten Roman „Hool“ erschrieben hat und den ich von „Carnival“ kenne, erzählt in diesem überaus modernen Buch von der schönen neuen Welt: Digitalisierung ist das Stichwort, auch eine gewisse Abstumpfung und Verrohung, die bei Fanni beispielsweise durch den übermäßigen Konsum absurd grausiger Videos entstanden ist. Das Internet ist eine Schlangengrube, und auch Junya genießt den Jubel, den seine blutigen Filme auslösen. Die Sprache ist hochgradig Denglisch, durchsetzt von zahlreichen Ausdrücken, die ich nicht kenne und manchmal nicht verstehe, aber irgendwie ist das geil: Es ist neu, anders, mutig, lehnt sich auf gegen das „Schönsprachliche“ der deutschen Literatur, auch wenn ich verstehen kann, dass einige es anstrengend und überzogen finden. Menschen, die Jobs wie Fanni machen, reden und denken aber in diesen Begrifflichkeiten. „Creep“ ist eine ziemlich heftige Story über Rache und Gewalt, Grenzüberschreitungen und das zweischneidige Schwert, das die Digitalisierung darstellt: Sie bringt uns viel Gutes und bringt uns gleichzeitig in Gefahr. Weil wir exponiert sind, gläserne Menschen, blind für die Abgründe, die sich im Darknet auftun, quasi direkt vor unserer Nase und dennoch unsichtbar. Das Ende fand ich in beiden Handlungssträngen seltsam unpassend, als wären beide Hauptfiguren plötzlich aus ihrer Rolle gefallen. Aber lest einfach selbst!

Creep von Philipp Winkler ist erschienen bei Aufbau.

Bücherwurmloch

„There’s a lot to love about breaking things“
Da ist die Frau, deren Mann oft mit seinem Zwillingsbruder Platz tauscht, und sie findet es besser so. Da ist die Frau, die ein Baby in die Hand gedrückt bekommt, das nicht ihres ist und vielleicht trotzdem ihre letzte Chance. Da ist die Frau, die mit ihren Freundinnen einen weiblichen Fight Club gegründet hat und den größten Spaß daran hat, zuzuschlagen und selbst geschlagen zu werden. Alle in diesem Band versammelten Kurzgeschichten haben weibliche Protagonistinnen, und alle sind weird, absonderlich, verblüffend, verstörend – und absolut großartig. Was für ein fantastisches Buch! Es war für mich eines der ersten in diesem Jahr, und gleich eines der besten. Ich liebe seltsame Short Storys, die eine Weile nachhallen, die man nicht so schnell vergisst, die einen schwer definierbaren Eindruck hinterlassen. Das tun die Geschichten von Roxane Gay auf jeden Fall. Zudem sind sie sprachlich ausgereift, böse, klug, witzig und oft mit einem kleinen Augenöffner im Kern, wie ihn gute Kurzgeschichten haben.

Der Titel ist Programm, das Buch lehnt sich gegen die Abwertung auf, die Frauen oft eingeprägt wird: dass sie „schwierig“ seien. Dass sie nicht schwierig zu sein haben, sondern lieber sanft, weich, nachgiebig, still. Das ist das Frauenbild, dem viele nacheifern, und Roxane Gay zeichnet Frauenfiguren, die mutig sind oder verzweifelt, die traurig sind und zutiefst verletzt, die sich wehren oder auch nicht, die alle anders sind und doch gleich: Die Gesellschaft würde sie schnell als schwierig bezeichnen und abkanzeln. Sie zeigt, dass so viel mehr dahintersteckt, und dass diese genannte Abwertung, die das Männliche aufwerten soll, in Wahrheit uns allen das Leben erschwert. Außergewöhnlich gute Kurzgeschichten, ich will unbedingt mehr Fiktion von ihr lesen!

 

 

 

 

Bücherwurmloch

„Wir sind hier. Wir existieren. Wir wollen einfach nur wahrgenommen werden“
Die Ich-Erzählerin ist Mutter, und für ihre Tochter Green, die längst erwachsen ist, wünscht sie sich einen guten Job, einen ordentlichen Ehemann, ein stabiles Einkommen und ein schönes Zuhause. Ist das so verwerflich? Nun ja – wenn man sich die Lebenswirklichkeit von Green ansieht, kommen Zweifel auf, denn sie lebt seit über sieben Jahren mit einer Frau zusammen. Das ignoriert die Mutter so lange weg, bis es unmöglich wird, weil Tochter und Freundin aus finanziellen Gründen bei ihr einziehen müssen. In ihrem Job als Altenpflegerin opfert die Mutter sich auf, zu ihrer Tochter ist sie hart und unfreundlich, findet sie abstoßend, falsch. Warum Green vor der Uni für ihre Rechte demonstriert, kann die Mutter nicht verstehen, doch als sie in die Ereignisse hineingezogen wird, muss sie sich in ihrer blinden Sturheit vielleicht doch ein wenig erweichen.

Wie schon in einigen anderen koreanischen Romanen begegnet mir auch in diesem eine extreme Nüchternheit: Kim Hye-Jin erzählt schmuck- und schnörkellos von einer Generation, die in ihrer gnadenlosen Homophobie alles Andersartige ablehnt. Das geht so weit, dass Familien entzweit werden, Kinder nicht ausleben dürfen, was sie fühlen, queere Menschen sich verstecken müssen. Ich habe lange gedacht, dass auch aus der Perspektive der Tochter erzählt wird, doch sie kommt nicht zu Wort, und bis zum Schluss hat mir gefehlt, was sie zu sagen gehabt hätte, das hätte die Geschichte für mich runder gemacht. So besteht dieser Roman aus einem beständigen Reproduzieren alter Vorurteile und Standardvorstellungen in Bezug auf Homosexualität, er zeigt den inneren Kampf einer Mutter, die sich am liebsten von ihrer Tochter abwenden würde, aber mit ihr zusammenleben muss. Was am Ende durchschimmert ist vielleicht Liebe, vielleicht auch nicht, das ist für mich durch den trockenen, formellen Stil schwer herauszufiltern. Dies ist ein schmales, trotzdem ein wenig sperriges Buch, das kein großes Lesevergnügen bietet, aber in seiner Botschaft natürlich essenziell und wichtig ist.

Die Tochter von Kim Hye-Jin ist erschienen bei Hanser Berlin.

Bücherwurmloch

„Ihr Alltag ist viel härter als erwartet“
Adélaïde ist 46 Jahre alt, eine gutaussehende, erfolgreiche Frau, die gerade ihren letzten Ehemann verlassen hat und nun allein lebt. Das soll nicht lange so bleiben, bestimmt wird sie bald einen Neuen finden, denkt sie. Doch dann erlebt Adélaïde, dass Frauen ihres Alters offenbar unsichtbar sind – eine Enttäuschung reiht sich an die nächste, dazwischen lauert die bittere Einsamkeit. Während sie in ihrem Job als Verlagspressefrau brilliert und auf Partys glänzt, sieht es im Privaten ganz anders aus: Adélaïde ist unfähig, ohne einen Mann zu leben, sie hat das „Heiratsjucken“, definiert sich ausschließlich über ihren Beziehungsstatus. Ihre drei engen Freundinnen erleben teilweise dasselbe, und zusammen können sie sich immerhin mit einer Line Kokain trösten. Aber dieser Trost hält nie lange an: Wer ist die Frau ohne einen Mann?

Chloé Delaume ist in Frankreich eine große Nummer als Autorin und Musikerin, dies ist der erste Roman von ihr, der nun von Claudia Steinitz ins Deutsche übersetzt wurde. Sie schreibt elegant und vollkommen nüchtern, mit einer fast schon befremdlichen, beinahe spöttischen Distanz zu ihrer Protagonistin, die so ahnungslos durchs Singledasein taumelt. Subtil ist an diesem Buch nichts, tatsächlich gibt Delaume jedes Gefühl und jeden Gedanken sehr präzise vor. Das hat mich teilweise sehr gestört, dann wieder ist das Ganze aber auf so böse Art witzig, dass ich wieder versöhnt war. Eine kluge, entlarvende Sichtweise auf das Leben von Frauen, die nicht mehr ganz jung sind, ein Blick auf das patriarchale System dahinter, das Adélaïde selbst nicht durchschaut, und die große Frage, wie eine Frau sich positionieren soll, wenn sie darauf gedrillt wurde, nur für den male gaze zur Verfügung zu stehen und der aber plötzlich nicht mehr in ihre Richtung geht – das ist „Das synthetische Herz“. Ein schmales Buch, das zum Nachdenken anregt.

Das synthetische Herz von Chloé Delaume ist erschienen bei Liebeskind.