Bücherwurmloch

„Eine Mutter ist etwas Schmerzliches. Sie ist Wunde und Narbe“
„Wir sind eine Gemeinschaft von Fischen, wir leben mit dem Klang des Wassers.“ Auf dem Fluss sind sie unterwegs: die Ich-Erzählerin und der Junge. Sie ist weiß und er ist schwarz, sie hat ihn nicht geboren und ist dennoch seine Mutter. Er wurde ihr gebracht, sie hat ihr Leben auf den Kopf gestellt, um für ihn zu sorgen. Nun sind sie unterwegs, weil seine schwarze Mutter ihn sehen will. Es wird viele Tage dauern, auf dem Fluss zu reisen, sie werden zu einer Gemeinschaft dabei, sie sehen Gefahr und den Tod, sie erleben Zusammenhalt und Zuneigung.

„Die Zöpfe verbinden die Frau, die die Haare trägt, mit der, die sie ihr flicht, auf eine intime, komplizenhafte Weise.“

Dies ist ein poetisches, sprachmächtiges Buch über Mutterschaft und die Kraft der Natur, über Verlust und Trauer, über langsames Reisen und Wasser.

„Der Fluss ist Zeuge von Klagen und Blut, Geburten und Toden, Fortgehen und Ankommen. Die Flüsse von Chocó, eine andere Form, Erde zu bewohnen: die Kanus sind auch Häuser, Arbeitsplätze und Verstecke.“

Lorena Salazar erzählt eindringlich von Zufallsbegegnungen und Verbindungen, sie beschwört eine Welt herauf, die mir in all ihren Einzelheiten – wie gesprochen wird, was gegessen wird, wie miteinander umgegangen wird – fremd ist. Heiß und stickig ist es, schwül, nass vom Regen, und über allem schwebt die Angst der Ich-Erzählerin, den Jungen, den ihr das Schicksal geschenkt hat, zu verlieren. Die Autorin, 1992 in Kolumbien geboren, findet dabei bestechend schöne Bilder für die widersprüchlichen Gefühle, die Mutterschaft mit sich bringt.

„Mama sein – so tun, als ob du die Angst besiegst und bei den Spielen verlierst.“

Ich habe den schmalen Roman mit dem mystischen Titel wie berauscht gelesen, fand ihn elegant, exotisch und interessant. Lange habe ich nicht mehr so viele Sätze markiert. Das Ende hat mich geschockt, und doch lag vermutlich auch die Brutalität die ganze Zeit über bereits in der Luft.

„Wir werden nie wiedergutmachen können, was das schwarze Volk erlitten hat.“

Ein wunderbares, sehr besonderes Buch.

„Ma, tut es dir nicht weh, so weiß zu sein? Du siehst aus wie ein Fisch von innen.“

Bücherwurmloch

„Ich bin einfach nur alt. Ich hatte genug Zeit, die richtigen Sachen anzuschaffen und die falschen auszusortieren“
Ende fünfzig ist die Ich-Erzählerin, eine renommierte Literaturprofessorin an einem kleinen College an der amerikanischen Ostküste, und dass ihr Mann John, mit dem sie seit Jahrzehnten zusammen ist, Affären mit Studentinnen hat, hat sie immer gewusst. Doch als er jetzt von einigen dieser ehemaligen Untergebenen angeklagt wird, das Machtgefälle ausgenutzt zu haben, stellt ihr Mitwissen seine Frau in kein gutes Licht, und sie kämpft um ihr Ansehen – am College einerseits, vor ihrer erwachsenen Tochter andererseits. Dann kommt Vladimir in die Stadt, der einen grandiosen Roman geschrieben hat, der ein kleines Kind hat und eine psychisch labile Frau. Die Professorin verknallt sich heftig in ihn, schämt sich für ihr Begehren und kann dennoch an nichts anderes denken als an den zehn Jahre jüngeren Mann – er wird für sie zur Obsession.

„So lief das immer, ein Mann konnte mich mehr verletzen als alles, was eine Frau je zu mir sagen könnte. Ein Mann konnte mich dazu bringen, mich selbst zu verachten, mich schuldig zu fühlen wegen meiner idiotischen Weiblichkeit und meiner albernen Launen, und einzusehen, dass ich gegen seine – die wahre – Macht nichts ausrichten konnte.“

Vladimir von Julia May Jonas ist ein sehr moralisches und politisches Buch, das ein breites Spektrum an Themen aufgreift: Es geht um die Frage, wo Consent aufhört und sexualisierte Gewalt beginnt, um Monogamie und das Leben in einer halb zerrütteten Ehe, in der man sich ein bisschen hasst, aber auch aneinander gewöhnt ist. Neben Age-Shaming und Bodyshaming wird das weibliche Begehren aufgefächert, das wir oft genug als unanständig und mit Scham behaftet darstellen. Herrlich sarkastisch ist die Ich-Erzählerin, was mir viele Schmunzelmomente beschert hat. Was sie später tut, ist hochgradig befremdlich, und über das Ende sowie über die Frage, ob es sich um ein im Kern feministisches Buch handelt oder nicht, habe ich lange nachgedacht, die ganze Geschichte ist ein nicht gerade subtiles Sinnbild für die Bestrafung einer gewissen „Sündhaftigkeit“. (Wer es liest, schreibt mir gerne, es gibt Redebedarf!) Insgesamt hat der Roman mich positiv überrascht und ich lege ihn euch unbedingt ans Herz.

Vladimir von Julia May Jonas ist erschienen bei Blessing.

Bücherwurmloch

„Er habe den Witz an der Sache nicht verstanden, hatte sie Juri sagen wollen, nämlich dass der Mensch sich im Laufe der Zeit ganz und gar unnötig im Kreislauf der Natur gemacht hatte und dennoch glaubte, unersetzbar zu sein“

Luise ist Meeresbiologin und fasziniert von der Meerwalnuss, einer Quallenart, mit der sie sich intensiv beschäftigt. Warum kann die Meerwalnuss in Gewässern überleben, in denen es sie gar nicht geben sollte? Wieso leuchtet sie? Weshalb gelingt es Luise nicht, sich diesem Geschöpf, das fast nur aus Wasser besteht, zu nähern, sie in Gefangenschaft zu halten, um mehr über sie herauszufinden?

„Die Meerwalnuss machte die ganze Welt zu ihrem Körper.“

Als sie in ihre Heimatstadt Graz muss, zu einer Besprechung im dortigen Tierpark, kommt sie in der Wohnung ihres Vaters unter, zu dem sie kaum eine Beziehung hat. Sie weiß nicht, dass er sie angelogen hat: In Wahrheit ist er nicht bei einer Tagung in Wien, sondern sehr krank und bei ihrem Bruder in Nürnberg. Den Tierpark von Doktor Schilling fand Luise schon als Kind faszinierend, vor allem auch wegen des Unfalls mit einem Raubtier, der dort geschehen ist. Während sie in Graz ist, verschwimmen die Grenzen zwischen Vergangenheit und Gegenwart, irgendwie auch zwischen Mensch und Natur, Luise ist selbst wie die Meerwalnuss: Es ist, als bestünde sie aus nichts, als gäbe es sie gar nicht.

„Jede Geschichte lässt sich auf mehrere Arten erzählen. Als Entdeckung oder als Eroberung, als Siegeszug oder als Untergang. Es hat nicht einmal jede den gleichen Anfang, es gibt auf jeden Fall nie ein Ende.“

Dies ist ein Buch über Umweltschutz und die Klimakatastrophe, eingebettet in die Geschichte einer jungen Frau, die nicht in der Lage ist, stabile Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen – auch nicht zu sich selbst. Sie kasteit sich, isst zu wenig und dann plötzlich sehr viel, unterdrückt ihre Gefühle und leidet zugleich an ihrer Gleichgültigkeit. Marie Gamillscheg, die mit ihrem Debüt „Alles was glänzt“ für Aufsehen gesorgt hat, hat ein Buch geschrieben, das sich stilistisch an seine Hauptfigur anpasst: eine Qualle. Es wabert, schwimmt, fasert aus, lässt sich nicht greifen, sieht wunderschön aus und faszinierend, manchmal leuchtet es. Es ergibt überhaupt keinen Sinn und ist gleichzeitig vollkommen logisch. Es ist seltsam und ruhig und beeindruckend, ich habe es richtig gern gelesen.

„Ist das nicht merkwürdig, wir verschwinden und glauben es uns selber nicht?“

Aufruhr der Meerestiere von Marie Gamillscheg ist erschienen bei Luchterhand.

 

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„Sie hätte gern etwas gesagt. Aber der bloße Gedanke, vielleicht reichte der auch“
Ich liebe ja Kurzgeschichten, wenn sie es schaffen, das Aufblitzen eines Gedankens, eines Gefühls einzufangen, von dem wir nicht wussten, wie wir es in Worte fassen sollten. Wenn sie ein bisschen weird und nicht ganz auserklärt sind, dabei sprachlich zugespitzt und im Idealfall erbarmungslos. Sie sollen mich verblüfft zurücklassen, sie sollen mich treffen. Und dann, wenn ich solche Kurzgeschichten finde, frage ich mich jedes Mal, wie ich sie euch nacherzählen, wie ich sie euch näherbringen kann. Denn das fällt mir unheimlich schwer: das Inhaltliche von Short Storys zu erklären. In den Geschichten von Sarah Raich geht es auf jeden Fall um vordergründig kleine Alltagsmomente, in denen aber etwas Größeres steckt. Es geht um Frauen, die nicht so wollen, wie sie zu wollen hätten, wenn man die Gesellschaft fragt. Um eine vermisste Katze geht es und um seltsame Begegnungen, aber auch um Verzweiflung und Einsamkeit und ein bisschen sogar um Leben und Tod.

„Menschen tranken. Menschen lagen auf Straßen und wurden überfahren. Männer trafen Frauen auf Partys und verstanden nicht. Vielleicht gab es nicht mehr Sinn als das.“

Ich habe Sarah Raich im März zufällig in einer Hotelbar in Leipzig kennengelernt, und ich bin sehr froh darüber. Weil ich jetzt in Kontakt bin mit dieser klugen, feinsichtigen Autorin, die so viel Herzblut und Eigensinn in ihre Figurenzeichnung legt. Die mir gleich auf Seite 11 dieses kleinen Büchleins mit einem Catperson-Moment gezeigt hat, dass wir irgendwo, auf irgendeiner Ebene, ähnlich ticken. Dies ist meine erste Kurzgeschichtensammlung von mikrotext, und auch über diese Entdeckung freue ich mich. Es lohnt sich, hinzuschauen: auf diese besonderen Bücher einerseits, auf die Menschen andererseits. Denn dank ihrer hervorragenden Beobachtungsgabe sind Sarah Raich zutiefst menschliche Geschichten gelungen, die mir richtig gut gefallen haben. Sie sind schlau, gewitzt, feministisch und überraschend. Ich weiß außerdem, dass Sarah Raich einen Roman geschrieben hat, der gerade bei einigen Verlagen auf dem Tisch liegt. Veröffentlicht ihn, denn ich will ihn lesen!

Dieses makellose Blau von Sarah Raich ist erschienen bei mikrotext.

 

 

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„Weiße Frauen wollten um jeden Preis mit weißen Männern gleichziehen, auch indem sie die Vorherrschaft über BiPoC an sich rissen“

Ich weiß gar nicht, wie man Mensch sein kann, ohne sich zu schämen. Ich schäme mich schon so lange für das, was wir als Menschheit sind, wie wir uns verhalten, wie grausam, blind und selbstsüchtig wir sind. Die Lektüre von Rafia Zakarias Buch hat dieses Gefühl noch weiter befeuert. Frauen sind nicht die besseren Menschen. Feministinnen sind keine besseren Menschen. Schon gar nicht, wenn sie weiß sind. Warum ein Feminismus, dem man sich anschließen könnte, unbedingt und zwingend intersektional sein muss, erklärt die Anwältin und Aktivistin Rafia Zakaria, selbst in Pakistan geboren und durch eine Ehe mit einem gewalttätigen Mann in die USA gekommen, schlüssig und nachvollziehbar anhand von Beispielen aus Vergangenheit und Gegenwart. Und gerade jetzt habe ich es getan: eine Verknüpfung hergestellt zwischen ihrer pakistanischen Herkunft und ihrer Biografie als Frau, die häusliche Gewalt überlebt hat. Das ist das Bild, das wir im Kopf haben von Frauen überall auf der Welt, solange sie nicht in Europa sind: dass sie sich in einer prekären Lage befinden, dass sie unsere Hilfe brauchen, unsere Belehrungen, unsere Expertise, unser Geld.

„… wird der weiße Feminismus immer noch als der Feminismus schlechthin präsentiert. Wenn Frauen of Color im weißen Feminismus eine Rolle spielen, dann sind sie Nebendarstellerinnen oder Bemitleidenswerte. Sie kämpfen um ihr Überleben oder um eine Schule oder ein Krankenhaus, und nicht um die Wahrnehmung als ganzheitliche und komplexe Menschen.“

Tatsache ist: Femismus ist in Wahrheit eine globale Bewegung, hat überall ihren Ursprung, nur sehen wir das in unserem Eurozentrismus nicht. Wir ignorieren die Folgen der Kolonialisierung und dass wir es waren, die vielerorts die Emanzipation der Frauen ausgebremst haben. Wir sind zutiefst rassistisch und unsolidarisch, geprägt von unserem White Savior Complex.

„Der Trickle-down-Feminismus, bei dem eine Lösung von oben heruntergereicht wird, ist kein intersektionaler Feminismus, sondern ein diktatorischer Feminismus.“

Rafia Zakarias Buch ist eine Herausforderung in jeder Hinsicht, und das ist gut so. Vielleicht hilft das Buch dabei, uns wachzurütteln und uns zu zeigen, dass wir niemals über Frauen anderer Herkunft stehen. Dass es, wenn überhaupt, nur gemeinsam möglich ist, etwas zu verändern.

„Es geht nicht darum, weiße Frauen aus dem Feminismus zu verdrängen, es geht darum, das Weißsein aus dem Feminismus zu verdrängen, in dem Sinne, dass Weißsein gleichbedeutend mit Herrschaft und Ausbeutung ist.“

Lest das.

Against white feminism von Rafia Zakaria ist erschienen bei hanserblau.

Bücherwurmloch

„Nachts, wenn alle schlafen, komme ich gut zum Weinen“

„Wir spüren den Hunger unserer Großeltern, wir sprechen die Sprache unserer Urgroßeltern, wir kochen die Gerichte der Menschen, die Nachtbeeren pflückten und sie mit nach Russland nahmen, und trotzdem dachte Kornelius, dass sein Leben trennbar sei von dem der Bauern, auf die er herabsah.“

Nelli hat Kornelius geheiratet, weil er verfügbar war und weil ihre Aussichten nach ihrer Metzgerlehre ohnehin nicht rosig waren. Nelli ist zum Glauben übergetreten, weil es sich angeboten hat und sie nach dem Tod ihrer Öma diese große Leere gespürt hat, die mit nichts zu füllen war. Nelli hat sich mit ihrem Sohn Jakob eingeigelt, weil sie zu ihm eine enge Verbindung hat und keine weiteren Kinder mehr bekommen konnte. Jetzt ist Jakob schon fünfzehn, die Öma fehlt Nelli immer noch arg, und Kornelius ist verschwunden. In Rückblenden erzählen Jakob, Nelli und ihr Bruder Eugen vom Aufwachsen als Russlanddeutsche, von der plautdietschen Sprache und der mennonitischen Familie, von Heimat und Entwurzelung. Was auch immer im Angebot ist, wird palettenweise gekauft, der Alkohol fließt in Strömen, Frauen und Männer fügen sich in die traditionellen Rollenbilder, was vor allem bei Nelli für depressive Zustände gesorgt hat, und über allem liegt das Gemeinschaftsgefühl von Menschen, die sich aneinander festhalten.

„Unsere Leute, also ohnse, haben sich nie versteckt, es konnte sie nur keiner finden, weil sie nie jemand gesucht hat.“

Elina Penner ist selbst in der ehemaligen Sowjetunion geboren und 1991 nach Deutschland gekommen. Ihrem Debütroman merkt man an, dass sie weiß, wovon sie spricht, und das macht ihn so gut: dass er Einblick gibt in eine Lebenswelt, über die wir Außenstehende – die Hiesigen – wenig bis nichts gelernt haben. Sie schildert die Bräuche und Gerichte, verwendet die entsprechenden Begriffe und beschreibt ein Familiengefüge, das an den Umständen zerbrechen könnte, irgendwie aber trotzdem hält. Gleichzeitig ist dies ein Buch über die Last eines Frauenlebens und seine Zwänge, über tiefe Trauer und hohe Erwartungen. Es ist schön ironisch, ein bisschen böse, gefühlvoll und originell. Ihr solltet es unbedingt alle lesen. Well done, Elina! Ich feiere dich besonders für deine spitzfindigen Sätze wie diesen:

„Kornelius bewies in dem Moment einmal mehr, dass er kein Ehemann, sondern ein Mann in einer Ehe war.“

Nachtbeeren von Elina Penner ist erschienen bei Aufbau.

 

 

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„Wir kannten keine Panik, wir waren Beamte“
Entschuldigt bitte, ich liebe dieses Buch. Das muss ich unbedingt vorweg sagen, ich erzähle euch auch gleich, worum es geht, aber das will ich voranstellen: Ich liebe alles daran. Den Ton, die Geschichte, die Figuren, das Ende und den Anfang auch. Ich finde es sogar noch besser als Lucy Frickes preisgekröntes und verfilmtes Buch „Töchter“. Ihr neuer Roman handelt von Fred, einer deutschen Konsulin, die zuerst in Montevideo landet, wo sie eigentlich eine gechillte Zeit haben sollte – doch wegen eines tragischen Zwischenfalls, der ihr angelastet wird, findet sie sich plötzlich in Istanbul wieder. Und hier stößt sie, die jahrzehntelang diplomatisch und besonnen war, die taktiert und kommuniziert hat, in jeder Hinsicht an ihre Grenzen. Denn in der Türkei spielen sich gefährliche politische Scharmützel ab, in die auch deutsche Staatsbürger geraten – allen voran ein Journalist, der Fred nicht nur in beruflicher Hinsicht zu nahe kommt.

„Hier wollte ich bleiben und auf die Revolution warten oder zumindest darauf, dass draußen eine bessere, gerechtere Zeit anbrach. Was wahrscheinlich hieß: Hier wollte ich sterben.“

Ah, es klingt schrecklich, wenn man sagt, man habe „gelacht und geweint“, nur ist es leider wahr: Mit den zynischen, resignierten Ansichten von Fred, die mit einem Lächeln im Gesicht am Weltgeschehen verzweifelt, hat Lucy Fricke mich komplett abgeholt und mich mehrmals laut auflachen lassen. Und mit dem Twist, den sie ihrer Geschichte gegen Ende gibt, hat sie mir tatsächlich die Tränen in die Augen getrieben. Dieser Roman ist nonchalant und fast beiläufig erzählt, macht kein großes Theater und trifft dabei doch so verblüffend genau. Er berichtet von Politik und Machtgehabe, von Verzweiflung und Aussichtslosigkeit, aber auch von Solidarität, Menschlichkeit und Hoffnung. Ich hatte Gänsehaut im besten Sinne und zudem das Gefühl, ein zutiefst weibliches Buch zu lesen, das wunderbar klug, empathisch und dabei herrlich abgeklärt, ironisch ist. Voller Zwischentöne, nicht auserklärter Emotionen, schlagfertiger Dialoge und schwarzem Humor. Für mich ein absolutes Highlight, gefühlsgenau, klug und perfekt komponiert. Chapeau!

„Wann immer man jubelnd die Arme hochriss, traf einen der Schlag.“

Die Diplomatin von Lucy Fricke ist erschienen bei Claassen.

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„Ich bin nichts Besonderes, außer, wenn ich nackt bin“
Es ist das Buch mit dem wohl hässlichsten Cover des Frühjahrs (und das ist angesichts des Inhalts ziemlich ironisch) und erinnert an „Botschaften an mich selbst“ von Emilie Pine, hinter dessen Umschlag ich nicht so viele persönliche Einblicke, Blut, Schweiß und Tränen vermutet habe. Genauso erging es mir mit diesen Essays von Emily Ratajkowski, ich wusste zuerst nicht einmal, wer sie ist. Das mag verwundern, weil dieser Frau 28 Millionen Menschen auf Instagram folgen und sie 2013 nackt im Video von „Blurred Lines“ getanzt hat, das in seiner zensierten Version fast 800 Millionen Mal geklickt wurde. Später hat sie gesagt, dass sie in einem solchen Video tanzen und Feministin sein kann, dass ihr Körper ihr gehört und sie die Kontrolle darüber hat. Doch davon ausgehend erzählt sie von ihrer Kindheit, von ihren Erfahrungen als Model, und es stellt sich heraus: So simpel ist es nicht. Und wem ihr Körper gehört, ist unklar.

„In meinen frühen Zwanzigern hatte ich nie darüber nachgedacht, dass die Frauen, die ihren Einfluss durch ihre Schönheit errungen hatten, dafür in der Schuld von Männern standen, deren Begierde den Frauen diese Macht allererst verlieh.“

Das Problem ist: Emily Ratajkowski ist schön. Schon als Mädchen wird sie anders wahrgenommen, anders beurteilt, scheint den Menschen durch ihre Schönheit etwas zu schulden. Bei Shootings zupft und zerrt jeder an ihr herum, ihre Nacktheit ist ein Gut, auf das alle zugreifen. Sie wird manipuliert und ausgebeutet, viele Erlebnisse sind hart an der Grenze zu sexualisierter Gewalt. Bilder werden gegen ihren Willen veröffentlicht und verkauft, mächtige Männer verdienen viel Geld mit Emilys Körper. An einem bestimmten Punkt während der Lektüre siegt meine Neugier und ich google ihren Namen. Dann sitze ich lange da, schaue ihre Bilder an und spüre, wie das Patriarchat in mir rumort: Wie kann sie Feministin sein und in sexy Posen Bikinis anpreisen? Wie kann sie schlau sein, wenn sie aussieht wie ein Püppchen? Diesen Effekt habe ich interessiert beobachtet und mich daran abgearbeitet. „My body“ ist definitiv ein Buch, das viel in mir angestoßen hat und über das ich immer noch nachdenke. Weil Emily Ratajkowski eindringlich schildert, wie komplex das Thema ist: Schönheit bedeutet Reichtum, bedeutet Macht – aber immer in Abhängigkeit vom männergemachten System, vom Verkauf der weiblichen Körper.

„Würde irgendjemanden interessieren, was ich schreibe, wenn ich Männer wie dich nicht beeindruckt hätte?“

Am Ende bekommt Emily Ratajkowski ihren Sohn, und auch wenn ich ihren Gedanken, dass ihr Körper nun endlich einen „Daseinszweck“, seine Bestimmung gefunden hat, nachvollziehbar und schön finde, hat er mir gleichzeitig Bauchweh beschert, weil er auf den alten patriarchalen Mythos einzahlt, Frauen müssten Kinder gebären, um vollständig zu sein. Und weil er dadurch alle Frauen ausschließt, die das nicht möchten oder können. Was ist mit ihren Körpern?

„Ich will alle meine Fehler und Widersprüche offenlegen, für alle Frauen, die das nicht können, für alle Frauen, die wir als Musen bezeichnet haben, ohne ihre Namen zu kennen, und deren Schweigen wir für Zustimmung hielten.“

Ein wichtiges, aufschlussreiches Buch, das unzählige Fragen rund um das Modelbusiness aufwirft, in dem Schönheit nichts anderes als eine Ware ist – und um unsere Vorurteile rund um das Thema. Die gilt es aufzubrechen, weshalb ich euch „My body“ dringend ans Herz legen möchte, es hat mich nachhaltig beeindruckt.

My body von Emily Ratajkowski ist erschienen bei Penguin.

 

 

Bücherwurmloch

„Hörte sich an wie ein wohlmeinender Hinweis, war aber eine Ohrfeige“
Diesmal ist Patsy Logan in Dublin: Eigentlich wollte sie sich eine Auszeit nehmen, über die Krise, in der ihre Ehe steckt, nachdenken, über die Ereignisse in Zusammenhang mit ihrem letzten Fall hinwegkommen und sich einen Plan zurechtlegen, wie es weitergehen soll mit ihrer Karriere beim Münchner LKA. Doch dann wird in der österreichischen Botschaft in Dublin eine junge deutsche Frau mit Blausäure vergiftet. Die Sache ist nicht nur aus diplomatischen Gründen prekär, sie führt Patsy zudem direkt in die Nachwirkungen der verheerenden Finanzkrise, die viele Iren ihrer Existenzgrundlage geraubt hat. Wer spekuliert mit den enteigneten Häusern und was sind eigentlich Vulture Funds? Kann Patsy etwas über ihren verstorbenen Vater herausfinden und werden sie und Ben sich endlich annähern?

Ellen Dunne hat mich mit diesem meisterhaft komponierten Krimi überrascht: Gleich auf den ersten Seiten gibt es, zack, zwei Tote. Am Anfang hat man – und so soll es ja auch sein – keinen Plan, wie das alles miteinander zusammenhängen könnte, und dann zeigt die österreichische Autorin, die seit Langem selbst in Dublin lebt, uns eine Seite der Stadt, die man so nicht kennt: In „Boom Town Blues“ geht es um Ausbeutung und Kapitalismus, um Habgier und herbe Verluste. Fast schon logisch eigentlich, dass sich die Menschen von der schweren Krise, die Irland in den 2000er-Jahren getroffen hat, bis heute nicht erholt haben. Die raubeinige Heldin Patsy erinnert in ihrer Art, sich in der Männerwelt zu behaupten, an Chastity Riley von Simone Buchholz und muss diesen Vergleich nicht scheuen: Beide sind starke Frauenfiguren, einigermaßen uncharmant und dabei zutiefst sympathisch, die eine nordisch kühl, die andere österreichisch gleichgültig. Aber nur nach außen, denn im Inneren tobt es sowohl in Patsy als auch in Chastity, und ich mag es, wie Ellen Dunne viele Gefühle andeutet, aber nicht auserzählt. Das ergibt einen eindringlichen Ton, der viel Raum für Interpretationen lässt.Auch der dritte Teil nach „Harte Landung“ und „Schwarze Seele“ überzeugt. Solide Spannungsliteratur für alle, die ein Faible für Krimis und für Irland haben!

Boom Town Blues von Ellen Dunne ist erschienen bei Haymon.

 

Bücherwurmloch

„Aus meiner Sicht ist es erstaunlich, wie viel Einsamkeit es erfordern kann, eine Ehe mit Kindern am Laufen zu halten“
Julia ist mit ihrem Partner aus der Großstadt in den kleinen Ort direkt am Nord-Ostsee-Kanal gezogen, sie hat einen Keramikladen eröffnet und wünscht sich sehnlichst ein Kind. Astrid ist Anfang sechzig, führt eine Arztpraxis und fragt sich, wie sie sich ihrer früheren Freundin Marli, die nach Jahren der Abwesenheit plötzlich wieder aufgetaucht ist, annähern kann. Julia und Astrid leben miteinander in der gleichen Gegend, ohne sich zu kennen, sie begegnen sich manchmal kurz. Als eine Mutter mit drei Kindern aus Julias Nachbarhaus verschwindet, kann Julia diese Leerstelle des Hauses, in dem alles zurückgelassen wurde, kaum ertragen. Warum sind sie so überstürzt aufgebrochen und wohin? Liegt dem Ganzen eine Geschichte der Gewalt zugrunde? Und was will der Junge, der eine rätselhafte Botschaft an der Terrassentür hinterlässt?

Kristine Bilkau hat mich mit ihrem neuen Buch tief beeindruckt: Mit Feingefühl und Raffinesse erzählt sie davon, was es bedeutet, in dieser Gesellschaft eine Frau zu sein. Sie zeigt verschiedene Frauenfiguren, die eine jünger, die andere älter, die eine mit brennendem Kinderwunsch, die andere kurz vor dem Ruhestand, aller familiären Verpflichtungen bereits entledigt. Das sind jedoch nicht die einzigen Ebenen dieses vielschichtigen Romans, der von Rollenbildern und weiblicher Solidarität handelt, von den Erwartungen, die an Frauen gestellt werden und die sie selbst haben, von tief eingeprägten Verhaltensmustern und späten Einsichten. In einer eleganten, klaren Sprache, die genau weiß, was sie will, durchleuchtet Kristine Bilkau Fragen der Mutterschaft und der Kinderlosigkeit, die Aspekte von Freundschaft, des Älterwerdens, des Zusammenhalts. Angedeutet wird, dass diese Frauen die Geschichten ihrer Mütter in sich tragen, selbst dann, wenn sie wenig darüber wissen. Ich habe dieses Buch wie im Rausch gelesen, so gefesselt hat es mich, obwohl – oder gerade weil – es sanft und leise ist. In dieser Sanftheit liegt eine große Stärke, ein unbändiger Wille, den ich als zutiefst weiblich empfunden habe. Für mich einer der besten Romane in diesem Frühjahr!

Nebenan von Kristine Bilkau ist erschienen bei Luchterhand.