Gut und sättigend: 3 Sterne

Jonas Hassen Khemiri: Alles, was ich nicht erinnere

Khemiri„Ein Abgrund tat sich unter uns auf. Wir klammerten uns aneinander und redeten uns ein, fliegen zu können“
Samuel ist tot. Er ist mit dem Auto seiner Oma gegen einen Baum geprallt. War es Absicht? Oder ein Unfall? Das versucht ein schwedischer Schriftsteller herauszufinden, indem er mit jenen Menschen redet, die Samuel kannten. Da ist Laide, seine große Liebe, die auch seine Ex-Freundin ist, weil sie Schluss machten, da ist Vandad, der große, starke Kerl, bei dem man nie sicher sein kann, ob er nun auf der schiefen Bahn ist oder nicht, da ist die Pantherin, eine alte Freundin und Künstlerin, da ist der Pfleger in dem Heim, in dem Samuels Oma untergebracht ist. Alle erzählen ihre eigene Version derselben Geschichte, und am Ende ergibt sich in vielen Facetten das Leben eines jungen Mannes, das vorbei ist.

Alles, was ich nicht erinnere war in Schweden ein Bestseller. Der vierte Roman des Schriftstellers Jonas Hassen Khemiri – Sohn eines tunesischen Vaters und einer schwedischen Mutter – wurde mit dem renommiertesten schwedischen Literaturpreis ausgezeichnet, auch die anderen Romane Khemiris sowie seine Theaterstücke fanden internationale Beachtung. Dass dieses Buch die Bestsellerlisten dominierte, wundert mich, weil es nicht gefällig ist. Es ist ein sehr schwieriges, anstrengendes, wahnsinnig trauriges Buch, das den Leser stark fordert. Das liegt vor allem an der Erzählweise: Das eigentliche Ich ist der schwedische Schriftsteller, der Antworten auf die Fragen nach Samuels Tod sucht. Dann gibt es aber viele andere Ichs, weil jeder, mit dem er spricht, als Ich antwortet. Und zwar abwechselnd, in kurzen Absätzen. Das könnt ihr euch so vorstellen: Laide erzählt zehn Zeilen lang etwas, dann ist Vandad dran. Beide Gespräche sind aber unabhängig voneinander. Und es steht auch nicht dabei, wer gerade spricht. Aus diesem Grund hab ich sehr, sehr lange gebraucht, um in diesen Roman hineinzufinden – ehrlich gesagt bin ich mir selbst jetzt nicht sicher, ob ich je wirklich „drin“ war. Zwischendrin, das muss ich gestehen, war ich mehrmals kurz davor, entnervt aufzugeben und das Buch abzubrechen.

Dass ich es nicht getan habe, liegt an der Faszination, die es trotz dieser Lesehürden ausübt – oder vielleicht deswegen. Es ist unüblich, es ist originell. Jonas Hassen Khemiri betont durch diesen permanenten raschen Perspektivenwechsel, wie subjektiv Meinungen und Eindrücke sind – und dass jeder Samuel auf andere Weise gesehen hat. Zudem kann der Leser nie wissen, ob derjenige, der gerade etwas preisgibt, lügt oder die Wahrheit sagt. Besonders Vandad und Laide sagen oft das exakte Gegenteil. Was hat sich wirklich abgespielt? Warum ist Samuel gestorben? Und wer hat daran Schuld? Das ganze Buch über war ich mir sicher, dass der Autor das nicht aufklären würde – doch er tut es, und das hat mich am Ende ein wenig mit diesem komplexen Roman versöhnt. Es geht um Freundschaft in diesem Buch, um das Ausnutzen anderer, um Einwanderung und die damit verbundenen Probleme, um eine Beziehung, die nicht funktioniert, auch wenn die Liebe groß ist. Es geht um einen jungen Mann, den keiner vergessen kann – obwohl er nicht mehr da ist. Oder genau deswegen.

Alles, was ich nicht erinnere von Jonas Hassen Khemiri ist erschienen bei der DVA (ISBN 978-3-421-04724-3, 336 Seiten, 19,99 Euro). Eine Besprechung findet ihr auch hier bei der Buchbloggerin.

2 Comments to “Jonas Hassen Khemiri: Alles, was ich nicht erinnere”

  1. Hallo Mariki,

    bei diesem Buch bin ich mir schon eine Weile unsicher, ob ich es lesen soll oder nicht. Insbesondere bin ich etwas reserviert bei Büchern, die sich so toll anhören und ich mir nicht sicher bin, ob es mir auch insgesamt, also auch der Schluß, gefallen würde. Deine Anmerkungen zum Ende haben mich aber nun überzeugt und somit wandert das Buch jetzt auf meine Wunschliste. Bei nächster Gelegenheit werde ich es mir zu Gemüte führen!

    GlG vom monerl

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