Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Thomas Glavinic: Das größere Wunder

Glavinic„Solange ich lebe, bin ich ewig“
Dass das Leben des jungen Jonas ungewöhnlich ist, hat folgende Gründe:

– Er hat einen Zwillingsbruder namens Mike, mit dem bei der Geburt was schiefgegangen ist.
– Seine Mutter säuft und kümmert sich nicht.
– Er kommt bei seinem Freund Werner unter und wächst dort auf.
– Er kann sich mit Werner telepathisch unterhalten.
– Werner lebt bei Picco in einer riesigen Villa, hat Privatlehrer, einen Chaffeur und den Arsch voll Geld.
– Dieses Geld kommt aus dubiosen Quellen.
– Als Jonas volljährig wird, gehört all das Geld ihm.

Jetzt ist Jonas erwachsen und mitten auf dem Mount Everest. Er will auf den Gipfel, trotz aller tödlichen Risiken, denn ob er bei dem Versuch, ganz hinaufzukommen, stirbt, ist ihm egal. Denn Jonas vermisst Marie, und ohne Marie hat nichts einen Wert. Dies sind weitere interessante Fakten über Jonas:

– Er hat ein großes Baumhaus in einem Wald in Oslo.
– Der Frau, die es für ihn gebaut hat, hat er höchstwahrscheinlich das Herz gebrochen.
– Er kann Sprachen verstehen, ohne sie je gelernt zu haben.
– Marie ist seine Seelenverwandte.
– Marie ist fort.

Thomas Glavinic ist einer der bekanntesten Autoren Österreichs, und trotzdem hat es lang gedauert, bis ich endlich ein Buch von ihm gelesen habe. Allerlei Gutes hatte ich über Das größere Wunder gehört, das 2013 auch für den Deutschen Buchpreis nominiert war. Eine konkrete Vorstellung hatte ich allerdings nicht von diesem Roman, und so war ich doppelt überrascht: zum einen von der sprachlichen Schlichtheit, zum anderen von der verrückten Geschichte. Da erzählt einer einfach so, wie es ihm Spaß macht, kümmert sich wenig darum, dass mancher Dialog eher seicht ist, manche Idee ein wenig haarsträubend. Und das ist bei Buchpreiskandidaten, seien wir ehrlich, ja doch eher ungewöhnlich, denn da wird normalerweise moralisiert und geschichtelt, gewusst und übertrumpft. Es bewirkt außerdem, dass auch das Lesen Spaß macht, hat man sich erst einmal auf Glavinics Wellenlänge eingestellt. Ich wusste nicht, dass man Thomas Glavinic nicht ernst nehmen darf, dass er experimentiert, der Realität ausweicht, Dinge tut, die man in Wirklichkeit nicht tun kann. Erstaunt bin ich auch über die Vielzahl an sprachlichen Misstönen, über das Danebenhauen und Schludrigsein, damit hatte ich wahrlich nicht gerechnet. Das größere Wunder ist erstaunlich leicht, fantasievoll, originell und amüsant. Seine großen Gedanken kommen nicht aufg’mascherlt, sondern schüchtern lächelnd daher, und das Buch ist genau das, was man niveauvolle Unterhaltung nennt. Es ist ein Todeskampf auf einem Berg, auf dem Menschen nicht sein sollten, es ist ein Erwachsenwerden, ein Nachdenken, ein Sichfinden und ein Sichverlieben, und eigentlich ist es auch die ganze Zeit die Frage: Was soll das alles, wozu sind wir hier? Bestes Zitat:

„Elend wird nach Richter gemessen.“
„Wovon reden Sie da?“
„Von Erdbeben. Oder eigentlich davon, wie man Erdbeben und Elend misst. Die Mercalli-Skala endet bei 12. Richter ist prinzipiell nach oben offen. Übelkeit, Elend, Depression – alles Richter. Freude, Lust, Glück – alles Mercalli.“

Das größere Wunder von Thomas Glavinic ist als Taschenbuch erschienen bei dtv (ISBN 978-3-423-14389-9, 528 Seiten, 11,90 Euro).

12 Comments to “Thomas Glavinic: Das größere Wunder”

  1. Glavinics Roman ist für den Euregio-Schülerliteraturpreis 2017 nominiert. Das ist eine schöne, seit Jahren erfolgreiche Initiative in der Euregio, also im Dreiländereck von Belgien, den Niederlanden und Deutschland. Seit einigen Jahren bemühe ich mich, alle 6 nominierten Werke im Vorfeld zu lesen, was zugegebenermaßen und aus vierlei Gründen nicht immer gelingt. Nach deinem schönen Artikel weiß ich, dass ich den Glavinic in der Abfolge der Lektüre ziemlich weit nach hinten gruppieren werden. Und wenn ich dann nicht dazu komme, habe ich offensichtlich nicht den größten Verlust erlitten.
    Danke für den Beitrag!

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  2. letteratura

    Viele finden den Roman ja kitschig, aber es ist mein liebster von Glavinic (habe nicht alle gelesen, aber einige). Muss damit wohl leben, obwohl ich ja eigentlich sagen würde, dass Kitsch bei mir gar nicht geht. Glavinic darf das. Der darf bei mir so Einiges 😉

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        1. letteratura

          Ja und nein, das ist ein bisschen schwierig, weil Jonas ja bei Glavinic immer wieder auftaucht, aber immer andere Biographien hat. Er selbst spricht bei seinen Büchern von “Paralleluniversen”.

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          1. letteratura

            Auf meinem Blog gibt’s ne Besprechung zum Jonas-Komplex, da habe ich versucht, es ein bisschen zu erläutern – so wie ich es verstehe (gibt sicher Interpretationsspielraum ;))

    1. Mariki Author

      Naja, also das Ende ist sicher nicht ganz frei von Kitsch 😉 Aber das hat’s auf jeden Fall gebraucht, ein anderes Ende wäre völlig inakzeptabel gewesen.

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  3. Magdalena

    Endlich hast es gelesen. Hab richtigen herzschmerz gehabt nachdem es aus war und bin gedanklich lange danach nicht weggekommen. Nach einem Jahr fällt es mir dann wieder ein und irgendwie bekomm ich heimweh nach dem buch, und nach der zeit in der ich es gelesen habe.

    hab dann auch andere werke von ihm gelesen und konnte damit absolut nix anfangen…

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