Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Pierre Jarawan: Am Ende bleiben die Zedern

Jerewan„Wenn eine Zeder sprechen könnte, würde sie uns Geschichten erzählen, die wir niemals vergessen“
„Ich glaube, alle Söhne lieben ihre Väter. Aber ich habe meinen verehrt. Weil er mich so oft teilhaben ließ an seinen beflügelnden Gedanken. Weil er mich mitnahm in Wunderwelten, die er in seinem Kopf erschuf. Weil er mich berauschte mit seinen Worten.“ Die Beziehung zwischen Samir und seinem Vater ist sehr eng, hier im fremden Deutschland, wohin die Eltern vor dem Krieg aus dem Libanon geflohen sind. Der Vater ist liebevoll und klug, stets gut gelaunt, beliebt bei allen Menschen. Er feiert spontane Feste, hat sich schnell integriert, immer lacht er, und er erzählt wunderbare Geschichten. Samir, so scheint es, ist für ihn das Wichtigste auf der Welt. Umso unverständlicher ist es, dass der Vater eines Tages spurlos verschwindet. Er geht und kommt nicht zurück. Der Schmerz ist so groß, dass Samir erstarrt. Er verliert alles, den Vater, die Mutter, die Schwester, die engste Vertraute, den Lebenswillen. Statt sich etwas aufzubauen, wühlt er in dem Trauerschlamm, der ihn umgibt, lässt sich erdrücken von den Schuldgefühlen und findet keinen Ausweg. Bis er zwanzig Jahre später erkennt: Er wird erst frei sein können, wenn er erfährt, was damals geschehen ist – und dazu muss er in den Libanon reisen, ein Land, das er nicht kennt, das immer noch zerrissen ist vom Bürgerkrieg der 1980er-Jahre. Im Gepäck hat er nichts weiter als das Tagebuch seines Vaters – und Hoffnung.

Ich sag es euch gleich rundheraus: Am Ende bleiben die Zedern ist ein wahnsinnig kitschiges Buch. Das könnt ihr euch wahrscheinlich wegen des Titels schon irgendwie denken. Lesen solltet ihr es trotzdem, denn wahnsinnig gut ist es auch. Der Autor, selbst Sohn eines Libanesen, geboren in Jordanien und aufgewachsen in Deutschland, war schon mal Internationaler Deutschsprachiger Meister im Poetry Slam. Das hat, ich geb es zu, in mir die Erwartung geweckt, dass mir sein erster Roman mit einer flotten, modernen, slammigen Sprache gegenübertreten würde. Weit gefehlt. Pierre Jarawan greift tief hinein ins Pathos und schöpft aus dem Vollen. Mit jedem zweiten Satz kitzelt er die Tränendrüse, mit voller Absicht. Er traut sich, kitschig zu sein, und nachdem ich meinen anfänglichen Schock überwunden habe, finde ich das gut. Da liebt ein Junge seinen Vater, vergöttert ihn, himmelt ihn an, mit einer Hingabe, die mir zu Beginn völlig übertrieben vorkommt. Dann lasse ich mich darauf ein. Auf die überschwängliche, gefühlvolle Sprache, auf die Sehnsucht nach einer unbekannten Heimat, auf die traurige Geschichte.

Jetzt sag ich euch noch was: Mit dem Ende des Romans, mit der Erklärung, bin ich wahrlich nicht einverstanden. Da hätte ich gern die Nummer des Autors gehabt, um ihn anzurufen und zu fragen: Was soll DAS denn, bitte? Das kann ich euch jetzt aber nicht näher erläutern, ohne zu spoilern, deshalb konzentrieren wir uns lieber darauf, dass Pierre Jarawan ein fantastischer Erzähler ist. Er gibt seiner Figur und ihren Emotionen viel Raum. Er schwelgt in den Gefühlen, den schönen wie den schrecklichen, kostet sie aus – ganz in der Tradition eines orientalischen Geschichtenerzählers. Er berichtet mir vom Libanon, vom Krieg zwischen Christen, Drusen und Muslimen, von Angst und Flucht und von einer Entscheidung, die so viele Leben für immer verändert hat. Nicht jede Metapher ist stimmig, und manchmal ist mir der Überschwang zu viel, aber ich hab das Buch trotzdem inhaliert und aufgesaugt. Es ist wundervoll, herzergreifend, betörend, intensiv. Hat man sich erst einmal in die Geschichte hineingewagt, entkommt man ihr nicht mehr so schnell. Und meine Tränendrüse? Die hat dem Reiz auch irgendwann nicht mehr standgehalten.

Am Ende bleiben die Zedern von Pierre Jarawan ist erschienen im Berlin Verlag (ISBN 978-3-8270-1302-6, 448 Seiten, 22 Euro).

5 Comments to “Pierre Jarawan: Am Ende bleiben die Zedern”

  1. Deine Buchkritik hat mir aus der Seele gesprochen! Mit dem Schluss ging es mir genauso, ich fand ihn nicht gelungen! Ich habe Perre Jarawan nach einer Lesung selbst danach gefragt, warum er den Schluss so angelegt hat, aber ich bekam leider keine Erklärung dazu. ich hätte es besser gefunden, wenn die Suche offen geblieben wäre.

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  2. Er hat keine Antwort gegeben, es hat ihm nicht so gefallen, dass ich das angesprochen habe! Die Lesung war aber klasse, er spricht sehr gut und erzählt viel von seiner Reise in den Libanon. Ich kann nur empfehlen, ihn live zu erleben!

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  3. Kathi

    Das Ende war mir auch zu “simpel” – hätte mir einfach mehr erwartet. Trotz Kitsch und Pathos aber ein gelungener Roman, der wirklich mitreißt.

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