Für Gourmets: 5 Sterne

Katharina Hartwell: Das fremde Meer

Hartwell„Ich werde dir ein Schiff schicken und einen Ritter“
Marie ist eine junge Studentin ohne Freunde, ohne Sozialleben, ohne großes Ziel, ohne Arbeit, die offiziell an ihrer Doktorarbeit schreibt, in Wahrheit aber nichts tut. Bis zu dem Tag, an dem ihr Jan auf den Kopf fällt. Denn dann fängt sie an, ihn zu lieben. Jan ist Fotograf und ein verschlossener Mensch, dem der Vater abhandengekommen ist, der nicht viel redet und dennoch eine intensive Präsenz hat. Die beiden lieben sich, stumm und innig, und als das Leben ihnen ein Bein stellt, splittet sich ihre Geschichte auf, erzählt sich auf dieselbe Weise immer neu, als hätten Jan und Marie viele Leben, in denen sie stets aufeinanderträfen: Sie sind Moira und Jonas in der verschwindenden Wechselstadt, in der Häuser sich auflösen und Menschen in ihre Atome zerlegt werden. Sie sind Augustine und Jacques in der berühmten Salpêtrière, der Pariser Nervenheilanstalt, hysterisch, ausgeliefert, in Gefahr. Sie sind ein Prinz und ein Ritter, sie sind ein Mädchen und ein Junge auf zwei Inseln, zwischen denen das Meer liegt, sie sind eine Spiritographin und ein Toter. All diese Geschichten sind anders, und doch haben sie vieles gemeinsam: den Schnee, den Verfolger, den nahenden Tod. Und immer ist es Marie, die Jan retten muss.

Von Katharina Hartwells Roman Das fremde Meer hatte ich im Vorfeld viel gehört, denn er hat ein lautes Echo in der Presse erklingen lassen. Das setzt die Erwartungen natürlich sehr hoch. Als ich den Roman schließlich zu lesen beginne, habe ich sofort jenes untrügliche, prickelnde Gefühl, dass ich auf ein Juwel gestoßen bin. Ich weiß wie ein alter Schatzsucher, dass mich goldene Worte und glitzernde Geschichten erwarten. Und ich behalte Recht. Die junge deutsche Autorin, die 1984 geboren wurde und am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig studiert, zeichnet vor mir ein rätselhaftes Bild, setzt ein Mosaik zusammen, aus Splittern, das erst nach und nach Sinn ergibt und immer klarer sichtbar wird. Sie entblättert eine Rose, und jedes Blütenblatt ist eine eigene Geschichte, steht für sich – und gehört doch zur selben Blume. Im Romankomplex ist jede Story eine Metapher, und zusammengehalten werden sie von vielen kleinen Metaphern, vielen roten Fäden: Wasser, Krankheit und Bedrohung kommen immer vor, ebenso wie eine geradezu unheimliche Anziehungskraft, ein Wiedererkennen, ein Band, das sich nicht kappen lässt, in keinem einzigen Leben.

Hätte Katharina Hartwell die Geschichte von Jan und Marie einfach so erzählt, wäre sie bestimmt sprachlich eloquent, vermutlich aber auch banal gewesen. Sie aber als Hauptmotiv an den verschiedensten Orten und zu unterschiedlichen Zeiten zu spiegeln, angesiedelt zwischen Traum und Wirklichkeit, lässt ein wahres Feuerwerk der Fantasie explodieren, ein Rätsel, ein Märchen. Das ist originell, klug, sehr durchdacht, gut konstruiert und vor allem wahnsinnig toll zu lesen. Jeder Satz sitzt, jeder Vergleich ist stimmig, jede zugefügte Wunde brennt. Die Autorin tobt sich aus, scheut nicht vor Legenden und Klischees zurück, um sie neu zu interpretieren und noch besser zu erzählen. Geister wandern durch dieses Buch, die Toten haben eine Stimme, das Lebendigsein ist nicht den Regeln unterworfen, die wir kennen. Und obwohl alles transparent ist, bleibt es bis zum Schluss spannend und lesenswert. Eine alltägliche Liebe, die in Wahrheit ebenso groß ist wie jede Liebe aus der Literatur, aus den Märchen, den alten Überlieferungen.

„Ich wünschte, du wärst kleiner. Nicht größer als ein Daumennagel. Ich wünschte, du wärst leichter. Ganz aus Aluminium gefertigt. Ich wünschte, du wärest so klein und leicht, dass ich dich zusammenfalten und bei mir tragen könnte. Ich wüsste sicher, dass du gut verwahrt bist und geschützt vor der Welt. Den Schlag deines stecknadelgroßen Herzens, ich hätte ihn immer im Ohr. Wir wären nie getrennt.“ Dies ist ein besonders wertvolles Buch – ein Schatz. Und für mich schon jetzt mit absoluter Sicherheit das beste Buch, das ich in diesem Jahr gelesen haben werde.

BannerDas fremde Meer von Katharina Hartwell ist erschienen im Berlin Verlag (ISBN 978-3-8270-1137-4, 576 Seiten, 22,99 Euro).

Noch mehr Futter:
– Wie ihre Protagonistin leidet auch die Autorin an unbegründeten Ängsten.
– „Dass Katharina Hartwell schreiben kann, lernt man schon auf den ersten Seiten ihres Debütromans Das Fremde Meer – wie klug sie eine Dramaturgie aufbaut, lernt man spätestens auf den letzten, traurigen Seiten ihres Romans“, heißt es auf spiegel.de.
– „Katharina Hartwells Sprache ist packend, trifft punktgenau das Herz des Lesers und schickt ihn auf eine Reise durch ein fremdes Meer“, schreibt Sophie von Literaturen in ihrer Besprechung.
– „Kein Buch hat mich dieses Jahr so sehr bewegt und beeindruckt wie dieses“, sagt Caterina von SchöneSeiten.
– „Katharina Hartwell erzählt ihren Roman mit ganz leisen und zarten Tönen und schreibt sich mit ihren Worten direkt hinein in das Herz des Lesers“, schwärmt Mara von Buzzaldrins Bücher.
– Hier könnt ihr das Buch bei ocelot.de bestellen.

0 Comments to “Katharina Hartwell: Das fremde Meer”

  1. Schön, dass auch du, die sonst so Kritische, diesem Roman verfallen bist. Für mich war es die Entdeckung des vergangenen Jahres, und sie stellte alles andere in den Schatten. Einer dieser ganz großen Bücher, die einem nur alle paar Jahre begegnen. Umso gespannter bin ich, was Frau Hartwell als Nächstes vorlegt.

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    1. Mariki Author

      Ja, tatsächlich. So ging es mir auch – ich war überwältigt. Und ich wusste sofort, dass das unheimlich gut wird…das Beste, was ich 2014 gelesen haben werde. Vielleicht lese ich dann sogar einen Zweitling…langsam lege ich meine Abneigung ja wieder ein bisschen ab.

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      1. … und dabei ist das Jahr erst zur Hälfte herum gewesen, das will schon was heißen. Ich wünsche dir, dass es dieses Jahr trotzdem noch das eine oder andere Buch geben wird, das dich umhauen wird.

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