Gut und sättigend: 3 Sterne

Uwe Kolbe: Die Lüge

Kolbe„Wenn die Frauen nur deinen Namen hören, kriegen sie schon feuchte Höschen“
„Bei der Scheidung der Eltern durch das Amtsgericht hätte die Geschichte von Harry alias Hadubrand Einzweck, meine Geschichte als unabhängige Person beginnen können. Das wäre nicht zu viel verlangt gewesen für einen Vierjährigen.“ Wo auch immer sie beginnt, Harry hat in seiner Geschichte durchaus einiges vorzuweisen: schnelle und große Erfolge als Komponist schon in jungen Jahren, das Mentoring des Meisters Sebastian Kreisler und Frauen über Frauen über Frauen. Sogar der Geheimdienst ist interessiert an ihm – denn Harry lebt in der DDR. Während die meisten versuchen, auszureisen, gibt er sich ab und zu rebellisch, hält aber in letzter Instanz stets den Mund, um sein eigenes Vorankommen nicht zu stören. Zum Vater, der als Kulturfunktionär die Kunstszene ausspioniert, hat er nur sporadisch Kontakt, die Lebensbahnen laufen parallel, kreuzen sich von Zeit zu Zeit. Neben all dem Persönlichen steht ihnen auch die Politik im Weg, denn da der Vater einst aus Überzeugung in den Osten ging, muss der Sohn nun in einer Diktatur leben. Und denkt man an das germanische Hildebrandslied, sind die Namen der Figuren wohl bezeichnend.

Die Lüge von Uwe Kolbe ist ein verstörendes, politisches und für mich sehr männliches Buch. Seite um Seite folge ich dem Ich-Erzähler Hadubrand Einzweck in seiner nicht chronologischen Selbstdarstellung, bis ich mich plötzlich bei dem Gedanken ertappe: Was für ein Arschloch. Dann wird es auf einmal einfacher, das Buch zu lesen. Vielleicht, weil sich eine Schublade geöffnet hat, in der der Protagonist es sich mit all seinen Eigenschaften gemütlich macht: Eingebildet ist er, eitel, präpotent. „Ich genoss die Popularität, die damit einherging, verlegen wie schamlos zugleich.“ Die Frauen – Linda, Rebekka, Katharina, Vera, Susanne und wie sie alle heißen – wechselt er in rasantem Tempo und hinterlässt dabei Kinder sowie gebrochene Herzen. Und obwohl er den Vater selten sieht, gleicht er ihm in diesen Verhaltensweisen, hat er doch selbst haufenweise Stiefgeschwister und (Ex-)Stiefmütter. Über den Vater sagt er: „Er kommt vorbei, hält seinen Schwanz rein, an dem ein paar Privilegien hängen, und dann zieht die Karawane weiter.“ Während Harry überzeugt ist, mit kleinen Aufmüpfigkeiten den Obrigen Ärger zu bereiten und sich ab zu einen Tadel einfängt, zappelt er in Wahrheit brav im Netz und ist folgsam wie ein Lemming. Inwiefern sich das mit Uwe Kolbes Erlebnissen deckt, wäre interessant zu erfahren, heißt es doch, dass der Roman, der in den Jahren 1976 bis 1984 spielt, autobiografische Züge trägt.

Ich hatte von Uwe Kolbe, der selbst in Ostberlin geboren und dort als Lyriker berühmt geworden ist, eine viel poetischere Sprache erwartet und bin überrascht von seinem nüchternen, verqueren Stil. Manch Formulierung wirkt auf mich in ihrer Ernsthaftigkeit und Korrektheit „typisch deutsch“, auch wenn dies freilich kein adäquater Ausdruck bei der Beschreibung eines Schreibstils sein kann: „… kam es immer wieder zum Abhören von zwei, drei Schallplatten“ oder „… unter stechenden Schmerzen entleerte sich mein sonst sehr deutsches, verstocktes Gedärm“. Allerdings passt das Formale perfekt zum Inhalt, und das Gesamtpaket aus Einblick in die deutsch-deutsche Vergangenheit, Porträt eines rücksichts- und skruppellosen Mannes und das seines ebenso wenig charakterstarken Vaters sowie schnörkelloser, griffiger, irgendwie verdrehter Sprache ist stimmig. Es fiel mir jedoch mehr als einmal schwer, mich im Geflecht aus verschiedenen Zeitebenen und Perspektivenwechseln zwischen Vater und Sohn zurechtzufinden. Dies ist kein gefälliges Buch, sondern eher eins, das den Leser ins Wadl beißt, dabei grimmig knurrt und sich nicht so schnell abschütteln lässt. Auf interessante Art beeindruckend.

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Die Lüge von Uwe Kolbe ist erschienen bei S. Fischer (ISBN 978-3-10-040221-9, 384 Seiten 21,99 Euro).

Was ihr tun könnt:
Einen Ausschnitt aus dem Roman bei den FAZ.net-Lesezeichen lesen.
Das Buch über ocelot.de bestellen.

Was andere über dieses Buch denken:
„Kolbe, selbst einst als Literatur-Wunderknabe der DDR gefeiert und von seinem Vater Ulrich für die Stasi ausspioniert, liefert mit „Die Lüge“ einen Schlüsselroman, ein komplexes Sittenbild aus der Mitte der Stasi-Hölle der DDR“, erklärt die Frankfurter Neue Presse.
„Kolbe will es dem Leser nicht zu einfach machen, seine Prosa hat keinerlei Liebreiz und kennt keine falsche Harmonie. Damit spiegelt sie den Stoff“, heißt es auf spiegel.de.
„Der Erzähler Kolbe will einfach sehr viel, manchmal zu viel. Er arbeitet mit Vor- und Rückblenden, mit Zeitsprüngen, denen zu folgen nicht immer einfach ist“, schreibt die Welt.

2 Comments to “Uwe Kolbe: Die Lüge”

  1. Ich finde den Begriff “männliches Buch” spannend, darunter kann ich mir nur schwer etwas vorstellen. Ich weiß aber aus Erfahrung, dass ich eher zu “männlichen” Büchern tendiere, als zu weiblichen – vielleicht ist das Buch also doch etwas für mich. Es bleibt auf jeden Fall auf meinem Radar. 🙂

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    1. Mariki Author

      Ja, das ist sicher keine sehr professionelle Aussage. Aber ich hatte bei vielen Beschreibungen das Gefühl, dass das einem Mann gerade sehr (viel mehr) zusagen würde … wenn du verstehst, was ich meine. Es wäre natürlich interessant, wie das Buch auf dich wirkt!

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