Gut und sättigend: 3 Sterne

Nina Sahm: Das letzte Polaroid

SahmDer melancholische Effekt von Polaroids
Es gab da diesen Sommer am Balaton, in dem Anna aus München und Kinga aus Budapest sich trafen und bei Teenager-Abenteuern wie In-die-Disco-Schleichen, Tretbootfahren mit einem Jungen und Alkoholtrinken eine Instant-Freundschaft eingingen, die sie anschließend jahrelang per Brief aufrechterhalten. Kinga ist wild, sexuell aktiv, witzig, erfolgreich – Anna dagegen hat einen einzigen, homosexuellen Freund, macht eine Bäckerlehre, erfindet einen Liebhaber und fadisiert sich nach der Trennung der Eltern im ständig leeren Haus. Als aus den Mädchen junge Frauen geworden sind, fällt die 23-jährige Kinga nach einem Unfall ins Koma. Anna fährt nach Budapest, nistet sich bei Kingas Eltern ein, beginnt Ungarisch zu lernen. Was genau sie in Budapest will und sucht, ist unklar, denn Kinga besucht sie nicht im Krankenhaus. Dafür verbringt sie umso mehr Zeit mit Kingas Freund Tibor, drängt sich ihm auf, fängt an zu kellnern, ist völlig scham- und rücksichtslos. Bis alles ein abruptes Ende findet.

In Das letzte Polaroid erzählt die deutsche Autorin Nina Sahm, die auch einen Prosa-Blog betreibt, eine höchst merkwürdige und irgendwie beunruhigende Geschichte. Sie hat sich getraut, mit Protagonistin Anna eine überaus unsympathische Figur zu entwerfen, eine Ich-Erzählerin, deren Charakterlosigkeit zum Kotzen ist. Denn Anna ist sprichwörtlich charakterlos, hohl, leer. Schon als Teenager im Balaton-Urlaub wurde sie als behütetes, stummes, verwöhntes Gör überrollt von Kingas Lebendigkeit und Mut. Über die Jahre haben sich in Anna schleichend und unbemerkt, ohne dass es im Roman je explizit erwähnt wird, Neid und Eifersucht angestaut. Sie hat vielleicht nicht unbedingt vorgehabt, in Kingas Leben zu schlüpfen, doch als es nach und nach geschieht, tut sie auch nichts dagegen. Allerdings ist Anna klug genug, um sich ihrer Wechselhaftigkeit bewusst zu sein, sie ist „Anna, der man alles anvertrauen konnte, die alles mit sich machen ließ. Die ihre Interessen wechselte wie ein verfluchtes Chamäleon. Ich überlegte, was Tibor wohl zu all den Annas sagen würde. Den Annas, die ich versucht hatte zu sein, bis ich selbst nicht mehr wusste, wie das Original eigentlich aussah. Ich hatte jede Rolle so lange gespielt, bis es zu anstrengend wurde und sie dann aus Gier nach mehr oder einfach aus Angst gegen etwas Neues eingetauscht.“ Als Anna endlich bereit ist, mit den Lügen aufzuhören, ist es zu spät.

Das Cover von Das letzte Polariod ist bezeichnend für den Inhalt: Ein Mädchen springt wagemutig in die Luft, das andere sieht neidisch zu. Nina Sahm hat perfekt eine Stimmung eingefangen, die nie in Worte gefasst wird und doch stets mitschwingt. Ein wenig gestört hat mich, dass die Handlung so ziellos ist wie Anna und das Buch zwischendrin seltsam orientierungslos wirkt, sodass ich nicht weiß, wo es hin will mit mir. Die Urlaubstage am Balaton sind derart aufgebauscht, dass ich mich frage, ob man sich denn so detailgetreu an jahrelang zurückliegende Geschehnisse erinnern kann – ich kann es nicht. Generell aber ist dies ein kluger, mutiger, interessanter und glänzend aufgebauter Roman mit einem überraschenden und grandiosen Ende, den ich gern gelesen habe und euch durchaus empfehlen möchte.

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Das letzte Polaroid von Nina Sahm ist erschienen bei Blumenbar im Aufbau Verlag (ISBN 978-3-351-05008-5, 239 Seiten, 17,99 Euro).

Was ihr tun könnt:
Nina Sahm beim Lesen zusehen.
Das Buch über ocelot.de bestellen.

Was ihr lesen könnt:
Andere gute Bücher über eine besondere Freundschaft.
Tigermilch von Stefanie de Velasco
Das Geheimnis der Eulerschen Formel von Yoko Ogawa
Die Ordnung der Sterne über Como von Monika Zeiner

6 Comments to “Nina Sahm: Das letzte Polaroid”

    1. Mariki Author

      Oh – so funktioniert das mit den internen Verbindungen?! 😉 Vom Stil her ist es allerdings ganz anders. Aber ich kann mir vorstellen, dass dir das Buch gefallen wird!

      Reply

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