Für Gourmets: 5 Sterne

Jesmyn Ward: Vor dem Sturm

Ward„Wo meine Brüder hingehen, gehe ich auch hin“
„Wir haben nie aufgehört zu weinen. Wir haben es nur im Stillen getan.“ Denn auch nach dem Tod der Mutter, die bei der Geburt des vierten Kindes gestorben ist, müssen die 15-jährige Esch und ihre Brüder Randall, Skeetah und Junior weitermachen. Der Vater trinkt, das Haus verfällt, die Sonne brennt – und über dem Mississippi-Delta braut sich ein Hurrikan von ungekannter Stärke zusammen. Sein Name ist Katrina. Zwölf Tage lang versucht der Vater, das Haus irgendwie sturmfest zu machen, während Randall von einer Zukunft als Basketballer träumt, Skeetah mit aller Kraft um das Überleben der Welpen seiner Pitbull-Hündin China kämpft und Esch feststellt, dass sie schwanger ist. Der Vater des Kindes ist Manny, der eine Freundin hat und sich bei Gelegenheit über Esch hermacht, sie aber ansonsten gar nicht ansieht. „In meiner Brust ist eine Bewegung, so als hätte jemand einen Schlauch voll aufgedreht, und jetzt strömt das Wasser, das in der Sommerhitze in der Pumpe gestanden hat, siedend heiß heraus. Das ist Liebe, und sie tut weh.“ Als der Hurrikan seine gnadenlose Wut an Eschs Heimat auslässt, spitzt sich die Lage dramatisch zu – in jeder Hinsicht.

Vor dem Sturm der amerikanischen Autorin Jesmyn Ward, die aus Mississippi stammt, ist ein unfassbar gutes Buch. Langsam, ganz langsam baut sich eine düstere, unabwendbare Bedrohung auf – und obwohl sich alles um vermeintliche Alltagsprobleme dreht, um eine unerwiderte Liebe, Hunger, die Alkoholsucht des Vaters, ist bald schon spürbar, dass es in Wahrheit um Leben und Tod geht. Ihr Haus bietet Esch und ihrer Familie keinen Schutz, doch es gibt nichts, wohin sie gehen könnten. Jesmyn Ward hat einen kraftvollen, intensiven, sehr eindringlichen Roman geschrieben, der mich mit seinem Strudel erfasst, mitreißt, hinabzieht. Ich-Erzählerin Esch ist stark, mutig, abgebrüht, schwarz – und bis an die Schmerzensgrenze verliebt. Die Einsamkeit frisst an ihrer Elefantenhaut, und dass Manny nur Sex mit ihr will und ansonsten nicht einmal ihren Blick erwidert, ist unerträglich. Mein Herz fliegt ihr zu, dieser kleinen, zähen Heldin, die wie alle anderen in der Familie genau weiß, dass sie nur überleben kann, wenn alle zusammenhalten. Die Geschwisterbande sind wichtig und unerschütterlich in diesem grandiosen Buch über Verlust, Angst, Armut und die Hilflosigkeit des Menschen angesichts von Naturkatastrophen. Sprachlich gesehen hat Jesmyn Ward eine wahre Meisterleistung zu Papier gebracht, hat ihre Sätze poliert, sodass sie in der sengenden Mississippi-Sonne glänzen und funkeln wie Miniaturschätze. Wunderbar, klug, traurig, spannend, schmerzhaft und poetisch – Vor dem Sturm solltet ihr unbedingt gelesen haben.

(Das sieht übrigens auch Mara von Buzzaldrins Bücher so.)

Vor dem Sturm von Jesmyn Ward ist erschienen im Verlag Antje Kunstmann (ISBN 978-3-88897-861-6, 320 Seiten, 21,90 Euro).

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