Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Yoko Ogawa: Das Geheimnis der Eulerschen Formel

Ogawa„Die Ordnung der Zahlen ist deshalb so schön, weil sie im täglichen Leben keinen Nutzen hat“

„Der Professor liebte Primzahlen über alles auf der Welt. Natürlich hatte ich schon einmal von ihrer Existenz gehört, aber es niemals für möglich gehalten, dass sie ein Objekt von so großer Leidenschaft sein könnten. Doch wie exzentrisch das Objekt seiner Liebe auch sein mochte, er war ein hingebungsvoller Liebhaber. Er behandelte sie zärtlich, ließ es nie an Demut fehlen, er hofierte sie und wich niemals von ihrer Seite.“ Als sie dem Professor zugeteilt wird, eröffnet sich der namenlosen Haushälterin eine völlig neue Welt: die Mathematik. Nach einem Unfall im Jahr 1975 währt das Gedächtnis des Professors nur noch achtzig Minuten, weshalb der Umgang mit ihm nicht einfach ist. Viele kleine Zettel an seinem Anzug helfen ihm dabei, sich nach jedem erneuten Gedächtnisausfall zurechtzufinden. Die Haushälterin muss sich jeden Tag mehrmals neu vorstellen, aber sie nimmt all diese Anstrengungen gern auf sich, weil der hilflose, tatterige Professor an ihr Herz rührt. Als er herausfindet, dass sie einen zehnjährigen Sohn hat, nötigt der Professor die Haushälterin, diesen nach der Schule herkommen zu lassen, damit er nicht allein ist. Er tauft ihn Root, weil ihn sein flacher Schädel an das Wurzelzeichen erinnert, das „unendlich vielen Zahlen ein schützendes Dach über dem Kopf bietet“. Langsam entsteht zwischen diesen drei völlig unterschiedlichen Menschen, von denen einer die anderen beiden alle achtzig Minuten wieder komplett vergisst, eine Freundschaft. Das ist jedoch der Schwägerin des Professors ein Dorn im Auge …

Yoko Ogawa schreibt unendlich freundlich und dadurch – in meinen Augen – sehr japanisch. Den Widrigkeiten des Alltags begegnen die drei Protagonisten, wie es für die Japaner üblich sein soll, mit ausgesprochener Höflichkeit. Sie sind beherrscht von gesellschaftlich auferlegter Steifheit und Distanz, und es ist umso schöner zu sehen, wie diese im Lauf des Romans schmelzen. In seiner Ratlosigkeit, wer da eigentlich vor ihm steht, greift der Professor immer wieder zum selben Trick: Er spricht über Zahlen, denn damit kennt er sich aus. Er erzählt der Haushälterin von Primzahlen und befreundeten Zahlen, hilft Root bei den Hausübungen und stellt ihm Aufgaben, und er entführt diese beiden, die sehr bescheiden und einfach leben, in eine Welt, zu der sie bisher keinen Zugang hatten. „In meiner Vorstellung waren die Zahlen immer irgendwie lebendig: Sie umarmten sich oder trugen dieselben Kleider oder standen Hand in Hand nebeneinander“, sagt die Haushälterin.

Das Geheimnis der Eulerschen Formel ist ein Buch, das man umarmen möchte. Weil es so schlicht und klug ist und so lieb dreinschaut. Deshalb kann man damit ganz ausgezeichnet auf der Couch kuscheln. Und sogar noch was lernen: über Primzahlen und ähnliche Zahlen, Wurzeln und Dreieckszahlen. Die Erklärungen versteht – zum Teil, ähem – sogar so ein Mathematikdepp wie ich, und sie fügen sich vor allem ganz perfekt in die Geschichte ein. Dieser anmutige Roman fängt die Rätsel der Mathematik ein und zeigt, dass das Leben selbst ebenso ein Rätsel ist. Drei Menschen, die scheinbar nicht zusammenpassen, tun es letztlich doch und finden im jeweils anderen etwas, das ihnen selbst fehlt. Schön.

Das Geheimnis der Eulerschen Formel von Yoko Ogawa ist als Taschenbuch erschienen im Aufbau Verlag (ISBN 978-3-7466-2944-5, 8,99 Euro, 250 Seiten).

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