Gut und sättigend: 3 Sterne

Traudl Bünger: Lieblingskinder

Bünger„Es ist wie immer, wenn man fällt: Der Boden ist da, bevor man merkt, dass man ihn unter den Füßen verloren hat“
Rosalie ist als Staatsanwältin eine eher vernunftgesteuerte junge Frau, die nur sporadische Beziehungen zu Männern pflegt. Eher halbherzig ist auch der Kontakt zu ihrem Vater, mit dem sie regelmäßig telefoniert oder Schweinsbraten isst, wobei sie seinen anstrengenden Monologen über seine paranoiden Weltansichten nicht immer zu hundert Prozent folgt. Als der Vater nach einem solchen Schweinsbratenessen plötzlich verschwunden ist, wünscht Rosalie sich, sie hätte besser zugehört: Welche Spur verfolgt er, wo könnte er sein? Hat er sich in irgendein Verschwörungsszenario hineingesteigert oder hat er dieses Mal tatsächlich etwas Verbrecherisches aufgedeckt und befindet sich in Gefahr? Rosalie bleibt nichts anderes übrig, als sich durch die vielen wirren Aufzeichnungen des Vaters zu wühlen, um Aufschluss über seinen Aufenthaltsort zu bekommen. Zur Seite steht ihr – oder eher sitzt, denn er ist gefesselt an einen Rollstuhl – Tobias, ein Freund aus Kindheitstagen, der Rosalies Vater gut kennt. An dem Unfall, der ihn lähmte, fühlt sie sich nicht unschuldig. So wird Rosalies Suche nach dem Vater auch zu einem Ausflug in ihre Kindheit, als sie noch glauben wollte, dass er nicht einfach nur verrückt war, sondern vielleicht doch ein Held.

In Lieblingskinder erzählt die deutsche Autorin Traudl Bünger von Wahnvorstellungen, vom Scheitern einer Familie und den schwindenden Illusionen eines Kindes, das sich später als Erwachsene den Schatten der Vergangenheit stellen muss. Sie tut dies, indem sie zwischen Gegenwart – die Suche von Rosalie und Tobias nach dem verschwundenen Vater – und Vergangenheit – Rosalies Kindheit, beginnend mit 1978 – wechselt und nach und nach alle Schichten der Story freilegt. Zu Tage kommt dabei ein Familienverband aus Vater, Mutter und zwei Töchtern, der mit der Zeit von der zunehmenden Verrücktheit des Vaters zermürbt wurde. Nachbarschaftsstreitereien, das Aussterben von Kleintieren, eine große Verschwörung zum einträglichen Verkauf von Glühbirnen – alles kann für den Vater zur Obsession werden. Und während Rosalie als kleines Mädchen noch seine diensteifrige Assistentin spielt, wird ihr später immer mehr klar, dass sie auf Abstand zum Vater gehen muss, um nicht selbst so zu werden wie er.

Sehr flott, nüchtern und frech ist der Stil von Traudl Bünger, ihre Ich-Erzählerin ist eine sympathische junge Frau, die gelernt hat, dass niemand auf sie achtet, wenn sie es nicht selbst tut – und dabei übersieht, dass man auch Schwächen zulassen und eingestehen muss, um zu einer stabilen Persönlichkeit zu werden. Das Verschwinden des Vaters und das Wiedersehen mit Tobias, der ihr bald wichtiger wird, als ihr anfangs lieb ist, werden für Rosalie zum Startpunkt für einen Ausflug zu jenen Geschehnissen, die sie gern verdrängen und vergessen würde. Die Autorin schreibt griffig und witzig, sie trifft perfekt den Ton zwischen Ernst und Unernst. Das Ende des Romans ist für mich persönlich unglücklich gewählt, denn auch wenn ich weiß, dass viele Schriftsteller gern auf diesen Knalleffekt-Kniff setzen, halte ich ihn für sehr mau und unbefriedigend. Überhaupt verliert das Buch gegen Ende hin für mich an Zugkraft, aber als angenehmes Leseerlebnis möchte ich es dennoch weiterempfehlen.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
sehr schlichtes Cover, kein Hingucker.
… fürs Hirn: jede Menge Trockenes – was der Vater zusammengetragen und sich zusammengereimt hat, führt im Buch zu manchen Längen.
… fürs Herz: ja! Eine Lovestory gibt es auch.
… fürs Gedächtnis: für mich das Ende. Allerdings in eher negativer Hinsicht. Muss das immer sein? Ist das die Angst vor zu viel Kitsch?

Entdeckt habe ich das Buch bei Mara von buzzaldrins Bücher, die es jedoch um einiges euphorischer besprochen hat als ich.

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