Kleine Köstlichkeiten: 4 Sterne

Michela Murgia: Accabadora

Murgia„Die Schuld beginnt, wie die Menschen, erst in dem Moment zu existieren, in dem jemand sie bemerkt“
Maria ist eine fill’e anima, ein Mädchen mit zwei Müttern, einer leiblichen und einer, bei der sie aufwächst. „Fillus de anima, Kinder des Herzens. So nennt man die Kinder, die zweimal geboren wurden, aus der Armut einer Frau und der Unfruchtbarkeit einer anderen.“ Bonaria Urrai, die gutsituierte Schneiderin des sardischen Dorfs, macht der vierfachen, verwitweten Mutter Anna Teresa Listru ein Angebot, das diese sofort annimmt. Und ein paar Tage später wohnt Maria schon bei Bonaria, ohne dass ihr jemand den Grund für den Umzug darlegen würde. Diese Art der offenen Adoption, bei der das Kind den Kontakt zur leiblichen Mutter weiterhin aufrechterhält, ist auf der Insel nicht unüblich. Maria zeigt sich flexibel und hängt ohnehin nicht sehr an ihrer Mutter und den Schwestern, und nach einer kurzen Zeit der Eingewöhnung fügt sie sich in das ruhige Leben im Haus von Bonaria. Sie darf in die Schule gehen und verbringt ihre Zeit gern mit Andria, dessen Bruder Nicola sich aus Rachsucht in eine prekäre Lage bringt. Maria bemerkt unerklärliche nächtliche Ereignisse, die mit Bonaria zu tun haben, doch das Geheimnis der Ziehmutter bleibt für das Kind lange unergründlich. Erst als Bonaria gegen ihre Prinzipien verstößt und sich in eine Geschichte verstrickt, die ihr selbst Angst macht, wird offenbar, wer sie wirklich ist: die Accabadora des Dorfs, die Frau, die gerufen wird, wenn ein Mensch bereit ist, das Leben zu verlassen, das Leben ihn jedoch nicht gehen lassen will. Maria reagiert mit Wut auf den Vertrauensbruch, und es kommt zum Zerwürfnis – nicht nur mit Bonaria …

Michela Murgia hat für ihren beeindruckenden Debütroman Anleihe bei einer alten sardischen Legende genommen, deren Wahrheitsgehalt niemand kennt. Die Accabadora, die Sterbehelferin, habe Menschen in Agonie den erlösenden Tod gebracht, heißt es. Ob es solche Frauen tatsächlich hab, ist unklar, zu groß war wohl der Zwang der Geheimhaltung, der sie umgab. Michela Murgia erweckt eine von ihnen zum Leben, gibt ihr ein Gesicht und eine Geschichte: Bonaria Urrai ist für die Aufgabe, die sie erfüllt, berufen und gleichzeitig gezwungen, ihr Folge zu leisten. Sie kommt mit dem Tod im wahrsten Sinn des Wortes in Berührung, und dass das Schicksal für sie letztlich ein Spiegel ihres Lebens wird, ist ebenso logisch wie grausam. Auf welche Weise sie die Sterbenden aus der Welt geleitet und warum sie es tut, schildert die Autorin in einigen kurzen, eindringlichen Episoden. Mit klangvollen Worten in schmalen Sätzen beschwört Michela Murgia ihre Heimat Sardinien herauf: mit Flüchen und Aberglauben, harter Arbeit und einem kargen Dasein, rituellen Festen und duftenden Backwaren wie aranzada und capigliette. Sehr ruhig und bedacht erzählt sie von einer Welt, die nicht weit im Gestern liegt und doch archaisch anmutet – unter anderem auch in dem Sinne, als dass der Tod in ihrer Mitte präsent ist und der Umgang damit nicht diskret und verpeinlicht ist wie in den meisten unserer heutigen Gesellschaften. Die Luft ist anders auf dieser Insel, schwerer, rauer, süßer, und ich mag es, wie Michela Murgias Sprache sich diesem Klima anpasst. Auf die Frage nach der Wichtigkeit unserer Wurzeln gibt sie, die selbst als fill’e anima aufgewachsen ist, mit dieser Geschichte eine mögliche Antwort: dass manchmal nicht zählt, wer einen geboren hat, sondern wer einen liebt, dass man Verantwortung übernimmt, wenn man als Mutter eine Tochter ins Haus bittet, aber auch als Tochter, wenn man das Haus dieser Mutter betritt. Accabadora ist ein in seiner Schlichtheit beeindruckendes und inhaltlich faszinierendes Buch, das mir eine rätselhafte, mythische, kühne Geschichte ins Ohr geflüstert hat vom fernen Sardinien, wo die Menschen so rau sind wie Fels.

Durchgekaut und einverleibt. Von diesem Buch bleibt …
… fürs Auge:
ein grandioses Foto mit einem unfassbar tiefen, traurigen Blick.
… fürs Hirn: Sterbehilfe ja oder nein? Haben die Menschen vor vielen Jahren in abgelegenen Dörfern damit weniger moralische Probleme gehabt als wir heute? Oder ist die Accabadora wirklich nur eine mythologische Figur?
… fürs Herz: kein Kitsch, kein Pathos, aber ein sehr rührender Ton.
… fürs Gedächtnis: das Ende und seine Stimmigkeit.

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