Netter Versuch: 2 Sterne

Michael Ondaatje: Divisadero

Einzelne, lesenswerte Fragmente – aber kein fertiger Roman
Michael Ondaatje ist bekannt für seinen englischen Patienten, aber auch Divisadero wurde von Heidenreich & Co. über die Maßen gelobt. Jetzt, nachdem ich es gelesen habe, frage ich mich allerdings, warum. Von Anfang an irritiert mich, dass der Autor so oft von einer Perspektive zur nächsten springt – und zwar auch, was den Ich-Erzähler betrifft, dieser ist sicher fünf Mal jemand anderes. Einmal ist das Ich Anna, von der ich zu Beginn dachte, sie wäre die Protagonistin, dann ist das Ich der Schriftsteller Lucien Sagura, zu Annas Lebzeiten längst tot, auf dessen Spuren sie in Frankreich wandelt.

Die Ausgangssituation ist ein Ereignis vor vielen Jahren: Die 16-jährige Anna verliebt sich in Coop, der Vater trennt die beiden auf brutale Weise. Wir folgen dann Anna, ihrer Schwester Claire und Coop für kurze Episoden auf ihrem weiteren Weg, alles bleibt jedoch merkwürdig schemenhaft und distanziert. Ondaatja entwirft Skizzen seiner Charaktere, richtig greifbar werden sie nicht. Eine Rolle spielen auch Lucien und Annas französischer Liebhaber Rafael, mit Lucien gehen wir zurück in seine eigene Vergangenheit, zu seiner ersten Liebe, zum Krieg. Dies alles hat mit Anna, Claire und Coop aber nichts mehr zu tun … und hängt auch nicht mit ihrer Geschichte zusammen.

Ich bin womöglich ein äußerst unflexibler Leser. Aber mehrmals in einem Buch mit einem Ich-Erzähler konfrontiert zu sein, von dem ich zuerst nicht weiß, wer zur Hölle er diesmal ist, gefällt mir nicht. Überhaupt erscheint mir der ganze Roman wie ein unfertiger, unausgegorener Entwurf für ein Epos, das nie geschrieben wurde. Das Ende lässt mich extrem unzufrieden zurück – alles, was mich an der Geschichte interessiert hätte, wurde angeschnitten, aber nicht richtig thematisiert. Wie hängen die einzelnen Erzählstränge zusammen? Warum gibt es keine Auflösung? Was ist der Kern der Erzählung, was will sie mir sagen, wohin soll sie mich bringen? Dieser Roman ist wie ein Episodenfilm. Das kann man mögen – mir fehlt jedoch die zusammenhängende Handlung.
Obwohl Ondaatje gut schreiben kann, schöne Sprachbilder entwirft und einige Passagen sehr lesenswert sind, ist Divisadero insgesamt eine Enttäuschung.

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